Roman mit Kokain (German Edition)
Worte erweckten kein Bild mehr. Ich konnte mir schon gar nicht mehr vorstellen, dass der Krieg die Menschen, die er nicht unmittelbar betraf, noch aufrichtig beunruhigen konnte, und da Burkewitz nun schon drei Jahre ganz und gar nicht mit mir verkehrte, noch mit sonst jemandem aus unserer Klasse, konnten wir natürlich auch nicht wissen, was er über den Krieg dachte; im Übrigen waren wir davon überzeugt, dass seine Meinung gar keine andere sein konnte als die unsere. Dass Burkewitz sich nicht zum Bittgebet für den Sieg in der Aula eingefunden hatte, wurde überhaupt nicht bemerkt, erst nach jenem Zusammenstoß erinnerte man sich daran; und was sein ständiges Fehlen bei den Exerzierstunden betraf, die an der Schule nun schon seit einigen Monaten eingeführt waren, so wurde das mal mit seiner Gesundheit erklärt, mal mit seinem Widerstreben, seine Stellung als Klassenbester, zumindest auf der physischen Ebene, an den mittelmäßigen Takadschijew abzugeben, der sich als bemerkenswert geschickter und starker Bursche herausgestellt hatte. Als ich Zeuge dieses furchtbaren Zusammenstoßes wurde, ahnte ich in meiner Unwissenheit noch nicht einmal, dass die donnernden Worte, die Burkewitz sprach, lediglich dem Blitz folgten, der schon vor vielen Jahrzehnten in dem Adelsnest in Jasnaja Poljana 12 aufgeflammt war.
8
In unserer Abschlussklasse fiel eine Stunde aus. Der Russischlehrer war erkrankt und nicht erschienen, und unsere Klasse, bemüht, nicht zu lärmen, um den Unterricht der sechsten und siebten Klassen, deren Räume sich ebenfalls in diesem Flügel befanden, nicht zu stören, spazierte leise über den Gang. Niemand beaufsichtigte uns. Der Klassenlehrer vertraute uns, die er jetzt « Studenten in spe» nannte, und hatte sich für einige Augenblicke in das Lehrerzimmer in der unteren Etage entfernt. Die meisten waren bester Laune: In zehn Tagen würden die Abschlussprüfungen beginnen – die letzte Etappe am Gymnasium.
Beim großen, dreiflügeligen Fenster, ganz nah an der Tür, hatte sich eine kleine Gruppe von Schülern versammelt, mit Jag in der Mitte, der leise, aber lebhaft etwas erzählte. Einer der Umstehenden erwiderte etwas, unterbrach ihn, aber Jag, der vor lauter Ärger offensichtlich vergessen hatte, dass wir leise sprechen sollten, fluchte unflätig laut.
Im selben Moment hatten die meisten schon bemerkt, was los war, und die ganze Gruppe begann sich umzustellen: von einem Kreis mit dem Gesicht zu Jag in einen Halbkreis mit dem Gesicht zum Schulpopen. Aber niemand hatte gehört, wann und wie er durch die Tür gekommen war.
«Ihr solltet euch schämen, Kinder», sagte er, nachdem er abgewartet hatte, bis alle seine Anwesenheit bemerkt hatten, wobei er sich mit seiner vorwurfsvoll-süßlichen Greisenstimme an niemanden im Besonderen gerichtet hatte, sondern an alle . « Bedenken Sie», fuhr er fort , « dass Sie in einigen Jahren schon als mündige Bürger in das gesellschaftliche Leben des Großen Russland eintreten werden. Bedenken Sie, wie schrecklich diese entwürdigenden Worte, die ich hier das Unglück hatte vernehmen zu müssen, in ihrer Bedeutung sind. Bedenken Sie, dass, wenn der Sinn dieser Unflätigkeiten Ihnen nicht bewusst ist, Sie das keineswegs entlastet, sondern Sie sich sogar noch mehr Schuld aufladen, weil es zeigt, dass Sie diese furchtbaren Worte jede Stunde, jede Minute gebrauchen, dass diese Worte für Sie keine Schimpfworte mehr sind, sondern ein Mittel, Ihren Gedanken Ausdruck zu verleihen. Bedenken Sie, dass Ihnen das Glück zuteilwurde, die Musik von Puschkin 13 und Lermontow 14 studieren zu dürfen und dass unser unglückliches Russland allein diese Musik von Ihnen erwartet, und keine andere.»
Und wie er da so sprach, wurden die Blicke der vor ihm stehenden Gymnasiasten irgendwie stumpf, undurchlässig; man hätte glauben können, dass all diesen Augen schlechterdings jeglicher Ausdruck fehlte, hätte man nicht gewusst, dass die Abwesenheit jeglichen Ausdrucks eben gerade bekunden sollte, dass sie gar nicht geflucht und all die tadelnden Worte nichts mit ihnen zu tun hatten. Aber so wie die Augen und Gesichter der ganzen Gruppe immer gleichgültiger, gelangweilter wurden, so wurde der Blick von Burkewitz, der erst jetzt leise herantrat, gleichzeitig immer lebhafter und gereizter, seine Lippen zogen sich schmal zu einem bösen Lächeln auseinander, und die Worte des Geistlichen, wie Nadeln in den Halbkreis der versteinerten Blicke und Mienen geschleudert, verklumpten und
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