Roman mit Kokain (German Edition)
zu sagen, überhaupt nicht hätte öffnen müssen. Endlich fasste ich mir ein Herz und fragte: «Mama? Mama ?» Dieses Mal kam es irgendwie atemlos und ängstlich heraus. Niemand antwortete. Aber die Laute, die ich von mir gegeben hatte, hatten wohl etwas in Gang gesetzt: Ich näherte mich dem Bett und wollte mich vorsichtig zu Mutters Füßen setzen. Ich versuchte mich so hinzusetzen, dass ich keinen Lärm machte und die Bettfedern nicht knarrten, und stützte mich zuerst mit der Hand am Bett ab. Und spürte sofort unter den Fingern die geklöppelte Überdecke, die nur tagsüber auf dem Bett lag. Das Bett war nicht aufgedeckt, es war leer. Augenblicklich verschwand der warme Geruch des neben mir schlafenden Körpers. Ich setzte mich trotzdem, wandte den Kopf zum Schrank, und da … sah ich Mutter endlich. Ihr Kopf war weit oben, am oberen Ende des Schranks, dort, wo die letzte Verzierung aufhörte. Aber warum ist sie nur da hochgeklettert, und worauf steht sie? Im selben Moment, in dem diese Frage in meinem Kopf auftauchte, spürte ich bereits eine abscheuliche Angstschwäche in den Beinen und der Harnblase. Mutter stand nicht. Sie hing – und blickte mir mit ihrer grauen Erhängtenfratze geradewegs in die Augen. «Aah !» , schrie ich auf und rannte aus dem Zimmer, als wäre mir jemand auf den Fersen, «aah !» , schrie ich wie wild, als ich schwerelos durchs Esszimmer schwebte und zugleich spürte, dass ich saß, dass ich langsam den steifen Kopf vom Tisch hob und mühsam aufwachte. Hinter dem Fenster schimmerte schon der späte Wintermorgen. Ich saß am Tisch, in Mantel und Galoschen, Hals und Beine schmerzten wie bei einer Erkältung, meine Schirmmütze lag auf einem fettigen Teller, und in meiner Kehle steckte ein Klumpen bitterer, ungeweinter Tränen.
6
Schon eine Stunde später ging ich die Treppe hoch, und als ich die vertraute, liebe Tür erblickte, überlief mich sogleich ein freudiger Schauder. Ich ging zur Tür und drückte kurz und behutsam, um nicht groß zu stören, die Klingel. Von draußen drang Straßenlärm hoch – ein Lastwagen jagte mit lautem Getöse vorbei, was die Fensterscheibe krachend erzittern ließ. Irgendwo unten ertönte ein sehr schrilles, morgendliches Telefonklingeln. Die Tür öffnete sich nicht. Da nahm ich mir ein Herz, drückte nochmals die Klingel und lauschte. In der Wohnung war es still, nichts bewegte sich, als wohnte dort niemand mehr. «Mein Gott » , dachte ich, «es wird doch nichts passiert sein, es wird doch hier alles in Ordnung sein. Was wird denn sonst aus mir ?» Wieder drückte ich den Klingelknopf, drückte verzweifelt und mit ganzer Kraft, drückte, presste, läutete Sturm, bis am Ende des Flurs schlurfende Schritte zu hören waren. Die Schritte näherten sich der Tür, kamen ganz dicht an sie heran, dann hörte ich, wie sich jemand am Schloss zu schaffen machte, und endlich ging die Tür auf. Freudig erleichtert atmete ich auf. Meine Befürchtungen waren grundlos gewesen: In der geöffneten Tür stand, gesund und munter, Hirge in Person. «Ach, Sie sind es» , sagte er mit gelangweiltem Abscheu, «und ich hab schon gedacht, da käme wirklich mal ein Mensch zu Besuch. Na, dann kommen Sie mal rein .» Und ich ging hinein.
* * *
An dieser Stelle enden, oder besser: brechen die Aufzeichnungen Wadim Maslennikows ab, der an einem frostigen Januartag im Jahr 1919 im Delirium zu uns ins Lazarett eingeliefert wurde. Nachdem er zu sich gekommen und untersucht worden war, gab Maslennikow zu, kokainabhängig zu sein; er habe schon mehrere Male versucht, die Sucht zu überwinden, aber stets ohne Erfolg. Allerdings sei es ihm durch beharrliches Ankämpfen gegen sich selbst mehrmals gelungen, dem Kokain einen, zwei, manchmal sogar drei Monate zu entsagen, worauf aber jedes Mal ein Rückfall erfolgt war. Aus seinen Aussagen ging hervor, dass seine jetzige Kokainsucht umso schlimmer war, da das Kokain in der letzten Zeit keine Erregung mehr bei ihm ausgelöst habe, wie es früher der Fall gewesen war, sondern nur noch eine krankhafte Reizung der Psyche. Genauer gesagt hatte das Kokain in der ersten Zeit eine Bewusstseinsverschärfung bewirkt, während es jetzt geistige Verwirrung auslöste, begleitet von Unruhe, die sich bis zur Halluzination steigern konnte. Wenn er also jetzt zum Kokain greife, hoffe er immer, jene ersten Empfindungen, die ihm das Kokain anfangs verschafft hatte, in sich auslösen zu können, müsse aber jedes Mal verzweifelt feststellen, dass sie sich,
Weitere Kostenlose Bücher