Roman mit Kokain (German Edition)
selbst die Autorschaft am Roman mit Kokain nachgesagt, dessen Verfasser sie erfunden und mit einer abenteuerlichen Biografie ausgestattet habe. Heute wissenwir, dass ausgerechnet die vorgeblich unglaubwürdige eine wahrheitsgetreue Zeugin war. Unter der angegebenen Adresse fand sie ein Irrenhaus, in dem ein 1898 geborener russischer Jude namens Mark Levi als «Freigänger» untergebracht war, wegen des beständigen Zitterns seiner Hände und zeitweiliger Halluzinationen; sein russisch-jüdischer Vater sei Pelzhändler, die deutsche Mutter Pianistin gewesen und Levi selbst in den Zwanzigerjahren nach Deutschland emigriert und von dort im heraufdämmernden Faschismus nach Istanbul ausgewichen, wo er sich in verschiedenen Berufen und endlich als Mitarbeiter des Verlags Hachette betätigte. Von diesem Mann, den sie als faszinierend und attraktiv beschrieb und mit dem sie ein kurzes, leidenschaftliches Liebesverhältnis einging, vermutete Lidjia Tscherwinskaja nach ihrer Rückkehr, dass er in Diensten des sowjetischen Geheimdienstes stand.
In den Jahren des Zweiten Weltkriegs wurde M. Agejew, wurde Mark Levi, wurde die ganze illustre und von vielerlei genialen, kuriosen, tragischen Gestalten bevölkerte russische Boheme des Exils vergessen, und mit alldem auch der Roman mit Kokain . In den späten siebziger Jahren aber flanierte eine aus Russland stammende Französin die Seine entlang, blieb bei einem der vielen Bouquinisten stehen, begann in einer Kiste zu stöbern – und was ihr in die Hände fiel, war ein zerfleddertes Exemplar jenes Romans, den sie vor mehr als vier Jahrzehnten fasziniert gelesen hatte. Lydia Chweitzer erstand das Buch, las es atemlos noch einmal und beschloss, es ins Französische zu übersetzen. 1983 erschien es und wurde, von der französischen Kritik gefeiert, völlig unerwartet zum großen Erfolg.
Der berühmte Nikita Struve, Abkömmling einer vornehmen St. Petersburger Familie, Professor für Slawistik, einer der bedeutendsten Geister der russischen Diaspora, verpfändete seinen wissenschaftlich Ruf darauf, dass weder M. Agejew noch jener Mark Levi diesen Roman verfasst habe, sondern niemand anderer als einer der größten Autoren des Jahrhunderts, für den er als Spezialist gelten konnte, Vladimir Nabokov. Zum einen schien es zwischen dem Roman mit Kokain und einigen frühen Romanen Nabokovs, namentlich Die Mutprobe und Einladung zur Enthauptung , allzu deutliche Entsprechungen zu geben, zum andern erinnerten den Professor die halluzinatorisch genau erfassten Details von Gesten, Bewegungen, Figuren an dessen hohe Kunst der Gestaltung. Und war der 1977 verstorbene Nabokov nicht berühmt und berüchtigt dafür gewesen, sich gerne manchen literarischen Schabernack zu leisten, sich des Spiels mit falschen Fährten, eleganten Finten, erfundenen Namen, verfremdeten Biografien zu erfreuen? Der Schweizer Dichter und Übersetzer Felix Philipp Ingold setzte im Unterschied zu Struve darauf, dass der Roman mit Kokain als Gemeinschaftsarbeit von Nabokov und Levi entstanden sei, wobei von diesem gewissermaßen die grobe Struktur und der Inhalt stammten, von jenem der Feinschliff und einzelne besonders prächtig ausgestaltete Passagen. Die Witwe Nabokovs widersprach vehement dem einen wie dem anderen und versicherte, dass ihr Mann mit dem Roman mit Kokain nicht das Geringste zu tun hatte. Merkwürdigerweise ließ sich Struve dadurch in seiner zur Obsession gewordenen Auffassung, ein unbekanntes Meisterwerk Nabokovs aufgedeckt zu haben, nicht beirren, und auch Ingold trug noch manches Indiz zusammen, das dafür sprach, dass irgendwie doch die geniale Hand Nabokovs in das Werk des literarischen Niemands Levi eingegriffen habe. So weit stand die Sache, als 1999 Thomas Urban sein großartiges Buch Vladimir Nabokov – Blaue Abende in Berlin publizierte, in dem er in einem eigenen Kapitel auch auf den Roman mit Kokain einging, die Argumente nüchtern gegeneinander abwog und davon ausging, dass der einzige Beitrag Nabokovs zu diesem Buch wohl darin bestehe, dass Levi dessen Romane gelesen und dabei manches gelernt habe.
Inzwischen war der Roman aber auch dorthin zurückgekehrt, wo er zwar nicht geschrieben worden war, aber doch spielt – nach Russland. Die Archivare Marina Sorokina und Gabriel Superfin machten sich, nachdem der Roman mit Kokain in Russland mit 55-jähriger Verspätung erschienen war, in minutiöser Kleinarbeit daran, dem ungelösten Rätsel des Verfassers nachzugehen. Was sie in den Archiven
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