Roman unserer Kindheit
Buben, alle in der Schwüle verfrühter Reife, um ihre Sybille herum. Alledrei trugen den gleichen schmeichlerisch werbenden Ausdruck in den ähnlich südländisch hübschen, aber unsommerlich käsigen Gesichtern. Allen fiel braunseidiges Haar schräg in die hohe, über den Augen höckrig zweigeteilte Stirn. Jeder hielt beide Hände mit seltsam gespreizten Fingern vor einen schmalen Brustkorb, der sich tonnenförmig, fast geometrisch exakt, nach vorne wölbte. Zum ersten Mal glaubte sie zu erfassen, wie unheimlich weit die Ähnlichkeit unter den männlichen Huhlenhäuslern ging. Und schwindlig vom ungewohnten Nikotin, schien ihr plötzlich glasklar, dass sich die Sippe auf ihrer langen kreisenden Wanderschaft durch die Täler und über die Höhen des Südwestens bis in diesen türkisen Wohnblock hinein stets nur untereinander zu Paaren zusammengefunden hatte. Die Handleserin schlüpfte unter die Decke des Scherenschleifers, die Kochlöffelschnitzerin gab sich dem Alteisensammler hin. Aber nicht nur aus blanker Not beschränkte man sich so auf seinesgleichen. Man tat es auch, um mit schlafwandlerischer Zielgerichtetheit diesen erstaunlichen Gleichklang maskulinen Ausdrucks zu erzwingen.
Sonnentag
Zweimal die Woche soll er zum Neuverbinden ins Josephinium kommen, und der Ältere Bruder hat sich zumindest auf das Kutschiertwerden gefreut. Die Rückfahrt vom Krankenhaus ist nämlich seine allererste Taxitour gewesen. Im Fond der schwarzen Limousine, die Hände auf dem braunen, mit Rosshaar prallgestopften Leder, das bandagierte Bein im Schoß der Mutter, durfte er spüren, wie die Spritze, die der Professor zuletzt doch noch spendiert hatte, zu wirken anhob, wie dem Schmerz ein kribbeliger Flaum wuchs, wie sich das Stechen, Beißen und Pochen nach und nach in diesem feinen Pelz verlor, bis sich der Fuß allmählich wattig taub, zuletzt fast schwerelos anfühlte. Und als sie dann leider viel zu früh, fast wie im Flug, oben in der Neuen Siedlung angekommen waren, als das Taxi zwischen die Blöcke bog und im Schritttempo zum dritten Aufgang rollte, worauf die Kleinen im Sandkasten aufsprangen und die größeren Jungen von den Wäschestangen, die ihnen als Torpfosten dienten, herbeigerannt kamen, während der Wolfskopf, der neben dem Fahrer saß, das Fenster hinunterkurbelte, um hinauszuwinken, hat unser großer Bruder noch einmal ganz heftig die Taxi-Luft, den Geruch von Lederpflegecreme und kaltem Zigarettenrauch, durch die Nase gezogen und durch den Mund geschlürft, um möglichst viel davon bis in die Wohnung mit hineinzunehmen.
Jetzt jedoch muss er, während er seine Haferflocken voneiner Backe in die andere schiebt, erfahren, dass es erst einmal keine weitere Taxi- oder Krankenwagentour geben wird. Gestern hat die Mutter gleich dreimal telefoniert, was zuvor noch an keinem Tag ihres Lebens nötig gewesen war. Zweimal ist sie in der Telefonzelle an der Kirche gestanden, hat zunächst mit der Krankenkasse und dann mit dem Josephinium gesprochen. Das dritte Gespräch, wieder mit der Krankenkasse, hat sie dann bei Frau Böhm geführt. Die Böhms haben sich als erste und bislang einzige Familie im dritten Aufgang einen Anschluss legen lassen, während es in den beiden vorderen Aufgängen schon jeweils drei Parteien gibt, denen das unisone und in allen Wohnungen maximal laut eingestellte Klingeln des Fernsprechapparats die Überraschungen einer erweiterten Welt verspricht.
Der Ältere Bruder hat bemerkt, dass die Mutter Frau Böhm seit einer Weile nur noch ungern um einen Gefallen bittet. Noch ahnt er nicht, warum. Aber er wird den Grund, nach dessen Kenntnis es ihn nicht im Geringsten gelüstet, in Bälde von seinen Brüdern, denen er aus dem Plappermäulchen von Sybilles kleiner Schwester zugeteilt worden ist, weitergereicht bekommen und ihn dann zu anderen garstigen Gründen legen, die ihm bereits offenbar geworden sind. Als die Mutter der Nachbarin im Treppenhaus vom Ärger mit der Krankenkasse berichtet hatte, bot ihr diese sogleich ihr Telefon für einen weiteren Anruf an, gab ihr zudem, wohl wissend, dass die Mutter selbst nicht auf den Mund gefallen ist, noch einen prima Tipp, wie sich am besten in ein Bild bringen lasse, welch blanke Unverschämtheit das ganze Hin und Her um die Fahrten zum Krankenhaus bedeute.
Geholfen hat es nichts. Bei der Krankenkasse bestand man weiterhin auf einer bestimmten Bescheinigung des behandelndenArztes, die erst geprüft werden müsse, bevor der regelmäßige Transport mit Taxi
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