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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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alten schmiert. So bleibt Sybilles Schwäche noch einen Winter und den Frühling unentdeckt.
    Die Witzigen Zwillinge hingegen werden schon im Herbst, gleich in den ersten Unterrichtswochen, zur Überraschung aller, die sie zu kennen meinen, mit dem gleichen Missgeschick erwischt. Ihr neuer, überwacher junger Klassenlehrer wird beobachten, dass der linke immer aus dem Heft des rechten abschreibt, was an der Tafel steht. Vergeblich werden sie noch eine Zeitlang durch flugses Umsetzen hinter dem Rücken des aufmerksamen Pädagogen zu verschleiern suchen, welcher von ihnen der Gehandicapte ist. Schließlich müssen sie mit der Mutter zum Augenarzt. Dort werden sie mit einem allerletzten, verzweifelt kühnen Trick probieren, den Mangel auf vier Schultern zu verteilen. Beinah gelingtes, und die Mutter muss ihren widerborstigen Sprösslingen, um den verdrossenen Onkel Doktor zu besänftigen, handgreifliche Konsequenzen androhen, obwohl sie insgeheim stolz auf ihr Zusammenhalten ist und lieber dem Bescheid sagen würde, der so leicht dranzukriegen ist und derart unfachmännisch schlechte Nerven hat. Dann aber, wenn sieben Tage später der Kurzsichtige seine erste Sehhilfe auf die Nase gedrückt bekommt und beide bittere Tränen weinen im Brillen- und Hörgerätefachgeschäft am Ende der Bahnhofsstraße, wird sie, wie es sich für eine wahre Mutter gehört, wissen, was zu tun ist. Die altgediente Optikerin wird eine Frage hören, die ihr in allen Arbeitsjahren nur dieses eine Mal zu Ohren kommt: ob es denn möglich sei, genau die gleiche Brille mit normalem Glas, quasi mit kleinen Fensterscheiben, anzufertigen und was so eine zweite falsche Brille wohl kosten würde.
    Der Ältere Bruder, der noch nicht kapiert hat, dass er Adleraugen besitzt, schaut über seinen auf die Kinderwagenkante gelegten Fuß, über dessen schnell schmuddelig gewordenen Verband hinweg den Hang nach Oberhausen hinunter. Schon sind sie auf Höhe des Gaswerks angelangt. Dort hat sich vorgestern ein schlimmer Unfall zugetragen. Der Vater des Wolfskopfs hat davon erzählt. Er machte es ganz kurz, die Familie war beim Abendessen, er selber hörte während seines Berichts keine zwei Sätze lang damit auf, den fettglänzenden Leberkäse, die unter einer weißen Haut erblindeten Spiegeleier und den mayonnaisebleichen Kartoffelsalat in sich hineinzuschlingen. Er hatte einen furchtbaren Hunger aus dem Gaswerk nach Hause gebracht, denn was ihm seine Frau zur Arbeit mitgegeben hatte, war wegen des Unfalls, der ihm und allen Kollegen anstandshalber denAppetit verschlagen hatte, wieder in der Blechbüchse nach Hause zurückgetragen worden.
    Der Wolfskopf hat die Geschichte dann seinen Freunden weiterberichtet. Aber weil er sich im Gaswerk nicht auskennt, weil er nicht einmal ungefähr versteht, wie dort die feuchte schwarze Ruhrkohle zum leichten, porösen Koks geröstet wird und dabei das Stadtgas herausrückt, ist auch seine Version arg karg ausgefallen. So hat sich jeder seiner Zuhörer aus seinem eigenen kleinen Kästlein Weltwissen zusammenkolportiert, wie der arme Arbeiter in Höllenhitze und in giftigen Schwaden sein Leben hingegeben hat. Der Ältere Bruder, der am meisten über das Gaswerk weiß, weil es von seiner Klasse im Frühling besichtigt worden war, hat sofort ein gemauertes Rund gesehen, sieht nun, wo er das ganze Gelände und damit auch das Gehäuse des großen, des großartigen Unglücks vor Augen hat, besondere Wunderziegel dem Gluthauch von tausendundeinem Grad mit einer gelben, fast goldenen Glasierung trotzen. Ein schlanker, junger Mann im blauen Overall stürzt an diesem Goldgelb entlang nach unten, merkwürdig langsam, als machte ihn die Hitze schweben. In einem Gitter bleibt er hängen, bäumt sich noch einmal auf, wirft dabei den Kopf in den Nacken, ein bisschen wie eine Frau, ein bisschen sogar wie eine Tänzerin, zuckt noch wie halb im Schlaf herum, liegt schließlich anmutig gekrümmt, gleich einem auf seiner Herzseite friedlich Eingenickten, in der Mitte des Rosts, bis es seinen Kollegen gelingt, den leicht gewordenen, weil in der kurzen Zeit schon völlig ausgedörrten Körper mit zwei langen Hakenstangen wieder hochzuholen. Oben tritt dann der Wolfskopf-Vater mutig nach vorne ans Geländer, obwohl sich die Stangenzieher mit gesenkten Lidern und ganz schmal gewordenen Lippenvon dem Heraufgefischten abgewendet haben. Er sieht die braunversengten Ärmel, den verkohlten Kragen, den vogelartig dünn gewordenen Hals, schließlich das

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