Roman unserer Kindheit
oder Krankenwagen genehmigt werden könne. Als Frau Böhm der Mutter zuletzt noch den Hörer aus der Hand nahm und dem Kerl am anderen Ende der Leitung auf eine Weise Bescheid gab, wie nur eine erfahrene Frau, also eine, die mehr als nur einen, zwei oder drei Männer im Bett gehabt hat, es zustande kriegt, tat dies der Mutter, die es versäumt hat, eine derart erfahrene Frau zu werden, in der Seele wohl. Aber erreicht wurde auch dadurch nichts. Also hat sie beschlossen, ihren Ältesten, quasi aus Protest, eigenhändig und zu Fuß nach Oberhausen hinunterzuschaffen.
Keines der Kinder stört, dass Oberhausen so heißt, wie es heißt, obschon das Viertel, das die Neue Siedlung mit der eigentlichen Stadt verbindet, wie jeder sehen kann, unten und nicht oben liegt. Die Mutter schiebt die Zwillingskarre den Oberen Kammweg entlang, von dem aus im Winter den langen freien Hang hinabgerodelt wird. Jetzt steht die Wiese hoch, so hoch, dass die Ähren der längsten Grashalme über dem Scheitel unseres großen Bruders schaukeln. Er muss sich im Kinderwagen aufrichten, ja sogar ein bisschen hochstemmen, um den Berg, wie die Kinder den Hang nennen, hinunterschauen zu können. Heftig, als ein seltsam hohles Saugen, überfällt ihn plötzlich die Lust, mit einem leeren Kaffeeglas, in dessen Schraubdeckel die Mutter mit dem Büchsenöffner Luftschlitze gedrückt hat, in diese unausschreitbar weite Wiese einzutauchen wie in ein Wasser, das einem warm um Bauch und Hüften schwappt. Die jähe Gier und die Unmöglichkeit, ihr nachzugeben, lassen ihn kurz vergessen, dass er natürlich längst zu groß zum Käfersammeln ist. Schon im vorigen und im vorvorigen Sommerist er nicht mehr mitgegangen, wenn die Witzigen Zwillinge mit ihrem gemeinsamen Behälter, mit ihrem extragroßen Gurkenglas auf Käferjagd gezogen sind. Nur noch gönnerhaft lau, ohne die heiß in den Hals hinauf pochende Herzenslust des Sammlers, hat er zuletzt, vor ein paar Wochen erst, begutachtet, was sie als Beute mit nach Hause brachten. Und obwohl der mehr als kleinfingerlange smaragdgrüne Laufkäfer nur der zweitgrößte war, der ihm je vor Augen gekommen ist, überließ er seinen kleinen Brüdern in altkluger Freundlichkeit den Ruhm, den bisher gewaltigsten Sechsbeiner all ihrer Wiesengänge gefangen zu haben. Ja, er erfand, um den beiden eine zusätzliche Freude zu bereiten, den Namen «Schatztruhenkäfer» für die Art, zu der das kapitale Bürschlein, das seine Panikrunden über den gewölbten Boden des Glases drehte, gehören sollte.
Ganz unten, noch nahe der Eisenbahnunterführung, müht sich ein Traktor mit Anhänger den Berg herauf. Jetzt sticht ein hellgrünes Auto aus dem schwarzen Rechteck des kleinen Tunnels, überholt das Gespann, und der Ältere Bruder erkennt das Modell, noch bevor es das erste Viertel des Anstiegs hinter sich gebracht hat. Wenn sie hier oben am Rand des Abhangs Auto-Raten spielen, ist unser großer Bruder nicht zu schlagen, obwohl der Schniefer von allen Kindern im Hof die mit Abstand größte Sammlung Modell-PKWs besitzt, mit seinem Vater, von dem er die Autoleidenschaft gelernt hat, alle vierzehn Tage eine Autozeitschrift liest und dazu regelmäßig die Prospekte studiert, die sich dieser zuschicken lässt. Ein ganzes und ein halbes Jahr werden noch vergehen müssen, bis der Schniefer-Vater endlich sein altes Motorrad mit etwas Vierrädrigem vertauschen kann, aber dann wird er nicht kleinlich kleckern, es muss gerade so einklotziger, wenngleich gebrauchter Viertürer mit langer, grüner Schnauze sein wie der, der nun schon fast den ganzen Berg bewältigt hat. Und weil am Tag der Abholung die Sonne scheint, wird der Vater des Schniefers mit aufgekurbeltem Schiebedach in den Hof rollen und nicht weniger als viermal hupen, bevor er vor dem mittleren Aufgang hält.
Der Ältere Bruder weiß nicht, dass er dem Schniefer beim Auto-Raten nur zuvorkommt, weil seine Augen in die Weite besser sehen als die seiner Freunde. Die Schicke Sybille, die dieses Spiel nie mitmacht, weil sie es angeblich blöd findet, ist sogar richtig kurzsichtig, was aber noch keiner außer ihr selbst herausbekommen hat. Im nächsten Schuljahr wird sie sich erneut, um der drohenden Brille zu entgehen, ganz vorn in die mittlere Reihe neben die doofe Doris setzen, obwohl die seltsam säuerlich riecht und vom ersten bis zum letzten Stundenklingeln kein Wort herausbringt, sondern bloß einen feuchten Popel nach dem anderen unter die Bank zu den dort hart gewordenen
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