Roman unserer Kindheit
Schlüssel abgebrochen. Die Kinder hoffen nicht mehr auf Hilfe. Ihr Feind hat seine Bärenhülle von den Beinen gestreift und ist bloß noch damit zugange, den Schädel aus dem hohlen Bärenhaupt zu kriegen. Das ist das Schwierigste. Würde der nackte rote Kerl hierzu herumbrüllen oder zumindest lauthals schimpfen, es würde keinen von ihnen wundern, es machte das Dastehen vielleicht sogar ein wenig leichter. Stattdessen zerrt er, entsetzlich stumm, an den Bärenohren, bohrt seine plumpen, nagellosen Daumen immer aufs Neue unter den Halsrand und müht sich – das ist die Galgenfrist der Freunde – vorerst vergebens, die Bärenkiefer über das verborgene Kinn zu schieben.
Alle verharren in Reih und Glied. Der Ami-Michi, der von allen die schönste, eine bildschöne Angst hat, klappt das Messer des Heftchenlesers auf und zückt die halbe Klinge. Wenn der Vater am Wochenende von seiner langen Tour über die letzte Grenze aus dem Reich der Türken heimkehrt, soll er, sobald er in der ersten deutschen Autobahnraststätte die Zeitung aufschlägt, lesen dürfen, wie man seinen toten Sohn gefunden hat. Dort soll dann stehen, auch wenn es nicht ganz stimmt, dass ihm, dem tapferen Michi, das Messer beim Kämpfen mit dem bösen Roten abgebrochen ist. Sybille hingegen überlegt, ob sie noch schnell ihr Kleid ausziehen und säuberlich gefaltet beiseitelegen soll. Dann könnte ihre Mutter es einem armen Mädchen schenken, nachdem sie undihre kleine Schwester, die Gott sei Dank am meisten schuld ist, beerdigt worden sind. Ob sie in ihrem Drachenkleid oder in Unterwäsche ermordet worden ist, wird ganz bestimmt nicht auf dem Grabstein im Oberhausener Friedhof stehen.
Der Schniefer aber weiß, dass er nicht länger für sich behalten darf, was er vom dünnen weißen Mädchen erfahren hat. Sie hat es ihm volle drei Mal und dennoch, das hörte er von Anfang an heraus, nicht gern verraten. Nach seinem ersten Aufstieg auf die Nagelbuche, dann aus dem Schaufenster der Lichtburg und schließlich erneut aus dem hohlen Baum hat sie ihm widerwillig, fast mürrisch aufgetragen, was er dem Älteren Bruder sagen muss, wenn es auf Leben und Tod geht. Und ganz zuletzt hat sie, ein missvergnügtes Schnütchen schneidend, hinzugefügt, dass dieser Hinweis, so nötig er auch sei, ihr selber nicht unbedingt zum Vorteil gereichen werde. Was immer sie auch damit meinen mochte, nun ist der richtige Moment gekommen. Von hinten zupft der Schniefer unseren großen Bruder am Ärmel und sagt ihm, was ansteht. Es ist nicht ganz, aber doch fast das Gleiche, was der Schiffsjunge in der Geschichte tut. Der Ältere Bruder erkennt die Parallele und zögert keinen Augenblick. Wie günstig, dass das Medaillon aus dem Hohlraum der Prothese nicht an einem Kettchen, sondern an einem schlichten Baumwollbändel hängt! So lässt es sich leicht um das rostige letzte Drittel der angespitzten Krücke schlingen. Schon ist es allerhöchste Zeit: Mit einem garstig feuchten Flupp, mit einem Schmatzgeräusch so laut, als risse der Schnappverschluss einer mannshohen Bierflasche seine tellergroße Gummidichtung vom Glasrund, hat sich das Bärenhaupt vom Kopf des roten Kerls gelöst.
Sputnik knurrt tief und bös. Nie hat der Fehlharmonikerdie Hündin derart grollen hören. Es hört sich älter noch als wölfisch an. Man könnte glauben, sie gurgelte mit Murmeln aus Granit. Wenn er den Lederbügel durch die Finger gleiten ließe, würde sie sich auf den üblen roten Burschen stürzen. Der Mann ohne Gesicht zweifelt nicht daran, dass ihm endlich der von den Mäusen prophezeite Kindermörder gegenübersteht. Respekt! Das Ganzkörperkostüm ist eine Wucht. Gewiss hat es eine abartige Geduld gebraucht, die Idee zu dieser Verkleidung in dingliche Wirklichkeit zu verwandeln. Der Unhold steckt in einer rotglänzenden Gummihaut. Etwas bläht diese Hülle rundum auf, Arme und Beine sind zu grotesken Wülsten angeschwollen. Schlimm hässlich auch der Kopf: Der Füllstoff, ein Gas oder eine Flüssigkeit, hat ihn über jedes menschliche Maß hinaus zu einem beuligen Ei verformt. Weder Ohren noch Nase, bloß ein rudimentärer Mund und seltsam nach außen gerückte Augen sind an der wabbeligen Blase zu erkennen. Am schlimmsten aber ist die Stirn. Als übler Wulst, als eine alles überwölbende Verwachsung ragt sie dem Betrachter entgegen, und selbst die Vorstellung, dass eine Unmenge Gedanken, dass vielleicht eine ganze kommende Welt diese Stirn bis zum Platzen dehnt, kann ihre Hässlichkeit
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