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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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Bär hat keine Phantasie. Das Spekulieren war und ist nicht Bärenart, gehört nicht zum Vermögen der braunen, schwarzen oder weißen Riesen. Nicht einmal die beiden kleinen Bärchen, die sie im restlos finsteren Endstück, dort, wo sich die Höhle zu einem Haken krümmte, am Tag der Wintersonnenwende gebar, hatte sich unsere Bärin als zukünftige Wesen, als riech- und abschleckbare, als zappelnde und japsende Gestalten vorstellen können.
    Drei Monde nach dem gemeinsamen Honigraub drangen die Bärentöter in die Höhle. Sie schwenkten Fackeln, mit Moos umwickelte, harzreiche, aber dennoch mehr qualmende als flammende Kiefernstöcke. Vom ersten Schritt ins Dunkle an schrien sie wie um ihr Leben. Die Männer der Horde brüllten im Chor, um sich den bitter nötigen Mut zu machen. Die Bärin hingegen musste nicht tapfer sein. Ohne Erinnerung an ältere Gefahr, ohne Vorausschau, ohne Furcht um das eigene Leben warf sie sich den Angreifern entgegen. Der Pelz hing ihr, weil sie den während des Sommers angefressenen Speck ganz in die Milch gegeben hatte, recht schlapp am Leibe. Noch magerer waren ihre Feinde. Erbärmlichstanden ihnen unter den umgehängten Fellen die Rippen aus der Brust. Nicht nur die Muskeln, auch die Erfahrung, selbst die Tücke unserer Bärentöter waren vom Frost, vom Sonnenmangel und vom Hunger wie ausgehöhlt. Die Vorräte der Horde waren längst erschöpft, schon hatte die Gemeinschaft ihre beiden Ältesten und ihre beiden Jüngsten unter angehäuftem Geröll bestatten müssen.
    Der Winterspeer ist so viel schwächer als der Sommerspeer. Jetzt stechen die Steinspitzen, in das gespaltene Holz gekeilt, mit Sehnen festgeschnürt, mit Birkenpech verklebt, dem aufgescheuchten Beutetier allenfalls noch mit halber Wucht entgegen. Schäfte zersplittern, zwei Schädel brechen zwischen den Kiefern, ein Nacken zerknackt unter den Prankenhieben der durchbrechenden Bärenmutter. So ist es aufgeschrieben. So hat es unser großer Bruder vorgelesen. Mit einem ihrer Jungen, mit einem fortan bruder- oder schwesterlosen Zwilling lässt ein Bild unseres Sommerbuches die blutende Bärin durch den tauenden Schnee des Südhangs in den noch vollends winterlichen Wald entkommen.
    Die Mutter kniet vor dem Sofa. Es geht schon wieder besser; die Schmerzen in der Brust sind am Verklingen. Vorhin, als ihr das Herz, wie unter einen Flackerstrom gesetzt, schlimmer wehtat als je zuvor, hat sie den Rest ihres noch heißen Kaffees, mehr als ein gutes halbes Glas, in die Spüle laufen lassen. Für diese Entscheidung, für diese tapfere Entsagung wollte sie sich mit dem letzten ihrer Dragées belohnen. Aber es hüpfte ihr, zu hastig aus dem Döschen geschüttelt, über die linke Hand und war im Nu unter die Couch gekullert. Jetzt kann sie es nirgends ertasten. Vielleicht ist das kleine Ding, über die Dielen eiernd, in eine der Rillen weggetaucht. Die Mutter ärgert sich noch einmal, dass ihr Sybilleskleine Schwester entwischt ist. Denn nun könnte das Nachbarsmädchen ihr dünnes Ärmchen unters Sofa schieben. Die Mutter gibt sich selbst die Schuld. Was für ein törichter Einfall, dem Mädchen aus dem Schrank im Schlafzimmer etwas zum Anziehen herauszusuchen. Die kleine Böhm war gewiss nicht splitternackig durchs Kinderzimmerfenster eingestiegen, sondern hatte Schuhe, Söckchen, Schlüpfer, Hemdchen und Kleid bestimmt nur unterm Bett versteckt. Als sie mit ein paar Sachen der Zwillinge ins Kinderzimmer zurückkam, war die verrückte Göre schon wieder durch die Fenstertür davon, lachte sich wahrscheinlich draußen, hinter einer Hecke, über die dumme Erwachsene kaputt. Das Sofa muss jetzt von der Wand. Herr Doktor Junghanns, der noch bis in den vorigen Sommer, bis die Hebamme im Elsternhorst auf Rente ging, bei einer kleinen Serie altmodischer Hausgeburten zugegen war und, wie er selber sagt, dabei eher das fünfte als das vierte Rad am Wagen abgab, hat ihr doch bloß das Heben, nicht das Schieben untersagt.
    Der falsche Bär zerrt wild an seinem Pelz. Das sieht abscheulich aus. Kein echtes Tier würde versuchen, sich seine Leibeshülle abzureißen. Die Kinder warten voller Furcht auf ein Ritschratsch. Wenn diese Klauen scharf sind, wenn dieses Fellkostüm so schlampig wie irgendeine billige Faschingskutte zusammengeschneidert ist, geht es bestimmt bald schon kaputt, und dann wird der Bösewicht, den es verbirgt, in der Gestalt, die ihm eine böse Mutter Natur geschenkt hat, aus der zerfetzten Hülle steigen. Die Angst rückt

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