Romana Exklusiv 0197
Tag. Lysan dachte an den Schnee zu Hause, verdrängte jedoch rasch den Gedanken daran. Sie hatte auch so schon genug Probleme und wollte sich jetzt nicht mit den Schwierigkeiten belasten, die sie in England erwarteten.
Nachdem sie Puerto Montt schon längst hinter sich gelassen hatten, geriet ihr Entschluss ins Wanken, sich nicht noch einmal nach dem Fahrtziel zu erkundigen. Aber erst als sie durch eine Stadt fuhren und schließlich vor einem Hotel anhielten, fragte Lysan: „Wo sind wir?“
„In Puerto Varas, wo denn sonst?“
Sie konnte es kaum glauben. Offenbar hat Gabina ihm erzählt, wohin ich wollte, und dann hat er mich tatsächlich selbst hingefahren, obwohl er sich schrecklich über mich geärgert hat, überlegte Lysan.
Sie gingen zur Rezeption, und während ein Hotelangestellter sich um das Gepäck kümmerte, erledigte Enrico die Anmeldeformalitäten.
Es war ein kleines, freundliches und gemütliches Hotel, und ihre Zimmer befanden sich auf der ersten Etage.
„Wir gehen zu Fuß“, entschied Enrico und dirigierte sie die Treppe hinauf. Lysan nahm an, er würde sich sogleich in sein Zimmer begeben, nachdem er ihres aufgeschlossen hatte. Aber er vergewisserte sich zunächst, dass sie gut untergebracht war. Und das hätte sie sich eigentlich denken können.
Es war ein wunderschöner Raum, hell und luftig, und als Lysan zum Fenster ging und auf den klaren blauen See hinausschaute, der sich vor ihren Augen endlos weit ausdehnte, rief sie begeistert: „O Enrico! Haben Sie jemals so etwas Bezauberndes gesehen?“
Da er nicht antwortete, drehte sie sich zu ihm um. Er blickte sie aufmerksam an. Sogleich wandte sie sich ab und schaute wieder zum Fenster hinaus. Hält er mich für naiv, oder habe ich etwas Falsches gesagt?, fragte sie sich irritiert und wünschte, sie wäre so erfahren und weltgewandt wie er.
„Sie haben recht, es ist wirklich bezaubernd“, stimmte Enrico sanft zu.
Er stand jetzt so dicht hinter ihr, dass sie sich seiner Nähe allzu sehr bewusst war und sich kaum noch auf den Ausblick konzentrieren konnte.
„Wie heißt der See?“ Krampfhaft bemühte sie sich um einen normalen Tonfall, während überhaupt nichts mehr normal zu sein schien.
„Lago Llanquihue“, erwiderte er.
„Und die Berge dort hinten? Sind sie schneebedeckt oder wolkenverhangen?“
„Beides. Es sind Vulkane.“
„Oh!“ Sie betrachtete sie ehrfürchtig. „Sind sie erloschen?“
„Ich hoffe es“, antwortete er ein bisschen spöttisch. Lysan drehte sich um. Sie wollte sich vergewissern, ob er wirklich lächelte. Sie hatte sich nicht geirrt, er schaute sie tatsächlich sehr freundlich und leicht belustigt an und wirkte so charmant, dass sie völlig hingerissen war. Doch dann wurde seine Miene plötzlich wieder ernst. „Sie sehen sehr müde und erschöpft aus“, meinte er.
Ihre gute Laune verflog sofort. „Sie verstehen es ausgezeichnet, die schönsten Komplimente zu machen“, fuhr Lysan ihn an. „Versuchen Sie doch mal, im Zug zu schlafen!“
„Habe ich schon! Es hat gut geklappt.“
„Ja, Sie schaffen das natürlich! Das hätte ich mir denken können.“
Enrico lachte. „Sie sind trotzdem sehr schön. Wir sehen uns beim Dinner. Wollen Sie sich nicht etwas ausruhen bis dahin?“
„Keine Angst, ich bin nicht so erschöpft, dass ich beim Essen einschlafe“, erklärte sie kühl.
„Wie Sie wollen.“ Er warf ihr einen gleichgültigen Blick zu und ließ sie allein.
Sogleich eilte Lysan ins Bad und betrachtete sich im Spiegel. Wieso behauptet er, ich würde müde aussehen?,dachte sie, denn sie konnte in ihrem Gesicht keine Spur von Müdigkeit entdecken. Dennoch wirkte das Bett sehr einladend, nachdem sie die vergangenen beiden Nächte mehr oder weniger schlaflos verbracht hatte.
Aber erst stellte sie sich unter die Dusche. Und während das warme Wasser über ihren Körper lief, empfand sie plötzlich eine tiefe Freude, dass Enrico doch noch nicht aus ihrem Leben verschwunden war. Sie konnte es kaum erwarten, mit ihm zu Abend zu essen, und hoffte, er würde es sich wegen ihrer kühlen Reaktion von vorhin nicht anders überlegen.
Nachdem sie sich abgetrocknet und den Bademantel übergezogen hatte, legte sie sich aufs Bett. Sie wollte nicht schlafen, sondern sich nur ein bisschen ausruhen, und dachte an die Berge und den Lago Llanquihue und natürlich an Enrico, den sie so sehr liebte. Er hätte nicht zu kommen brauchen, um sich zu vergewissern, dass mit ihr alles in Ordnung war. Schließlich war
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