Romana Exklusiv 0197
allein.
Natürlich würden Enrico und ihr Vater weiterhin Geschäfte miteinander machen. Und wenn sie mit Gabina in Verbindung blieb, würde sie wahrscheinlich ab und zu von ihr hören, wie es Enrico ging.
Eine Stunde später begab Lysan sich zum Dinner in den Speisewagen. Nachdem sie das Essen bestellt hatte, dachte sie darüber nach, dass Gabina in ihren Briefen nicht nur Enrico, sondern auch seine Freundin Ondina Alvarez erwähnen würde.
Wenn Gabina ihr nun eines Tages mitteilte, dass Enrico Ondina heiraten würde? Lysan verging der Appetit. Soll ich mich vielleicht mein Leben lang mit solchen oder ähnlichen Gedanken herumquälen?, überlegte sie gereizt, während sie die Gabel in die Hand nahm und lustlos in dem Salat herumstocherte, den man ihr als Vorspeise serviert hatte.
Als sie in ihr Schlafwagenabteil zurückkam, war ihr Bett schon gemacht. Sie war müde und legte sich sogleich hin, wälzte sich jedoch die ganze Nacht unruhig hin und her und schlief nur wenig. Bei Tagesanbruch stand sie auf und machte sich fertig. Dann setzte sie sich ans Fenster und betrachtete die malerische Landschaft, die an ihr vorbeizufliegen schien, die üppig grünen Wiesen, die vielen Bäume und ganze Felder mit wunderschön blühenden Blumen. Chile gefiel ihr immer besser, sie hatte sich richtig in dieses Land verliebt. Aber immer wieder kreisten ihre Gedanken um Enrico, auch wenn sie versuchte, sich auf die Umgebung zu konzentrieren.
Nach dem Frühstück im Speisewagen – sie hatte sich Rührei in der Pfanne bestellt – verbrachte sie die restliche Zeit im Abteil und verzichtete auf den Lunch, weil sie keinen Hunger hatte. Sie ließ ihren Gedanken freien Lauf und überlegte, wie sie Urso Ibanez klarmachen sollte, dass sie sich Puerto Varas am nächsten Tag ohne ihn anschauen wollte. Natürlich war sie ihm und Gabina dankbar für die Hilfe, aber sie wollte lieber allein sein und war momentan sowieso nicht in der Stimmung, höflich Konversation zu machen. Sie fühlte sich so unglücklich wie noch nie in ihrem Leben.
Schließlich tauchte der Zugbegleiter auf und erklärte, dass sie in wenigen Minuten in Puerto Montt eintreffen würden. Und als es so weit war und der Zug angehalten hatte, half er ihr noch beim Aussteigen. Lysan bedankte sich höflich und bemühte sich dann, eine heitere Miene aufzusetzen. Sie glaubte, es Urso Ibanez schuldig zu sein, der wahrscheinlich jeden Moment auftauchen würde.
Sie stand auf dem Bahnsteig und blickte suchend in alle Richtungen – und entdeckte plötzlich Enrico Viveros, der auf sie zukam. Ihn hätte sie am allerwenigsten hier erwartet!
„Wieso sind Sie denn hier?“, fragte sie verblüfft. Das Herz klopfte ihr zum Zerspringen, und sie bemühte sich krampfhaft, sich die Freude über das Wiedersehen nicht anmerken zu lassen.
„Das könnte ich Sie auch fragen“, erwiderte Enrico ironisch. „Wollen Sie hier Wurzeln schlagen, oder wollen Sie die Leute hinter Ihnen durchlassen?“
Sie trat einige Schritte zur Seite und konnte es einfach nicht fassen, dass er wirklich da war.
„Was machen Sie hier?“ Sie rang nach Luft.
„Und was machen Sie hier?“
Er war offenbar nicht in bester Stimmung. Vielleicht ärgerte er sich, weil sie hinter seinem Rücken abgereist war.
„Ich habe Ihnen eine Nachricht hinterlassen“, sagte sie.
„Ja, vielen Dank für die Mitteilung, dass es Ihnen bei mir nicht gefallen hat!“, fuhr er sie an.
„Das habe ich doch gar nicht behauptet!“
„Das brauchten Sie auch nicht, ich kann gut zwischen den Zeilen lesen.“
„Egal, was ich geschrieben hätte, Sie hätten sowieso alles falsch ausgelegt, nur um mir etwas vorwerfen zu können.“
„Sie wollen mir also einreden, ich hätte Sie falsch verstanden! Haben Sie etwa nicht gelogen, indem Sie Gabina erklärten, ich wüsste, dass Sie wegfahren würden?“ Er blickte sie herausfordernd an.
„Also …“ Sie atmete tief durch und hatte auf einmal keine Lust mehr, sich mit ihm zu streiten. „Ich habe nicht vor, hier auf dem Bahnsteig anzuwachsen und stundenlang mit Ihnen zu diskutieren“, erwiderte sie kurz angebunden. „Ich werde abgeholt.“ In ihren grünen Augen blitzte es trotzig auf.
Sekundenlang betrachtete Enrico sie mit ausdrucksloser Miene. „Ja, von mir“, erklärte er. Dann hakte er sie unter und führte sie energisch aus dem Bahnhof zum Parkplatz, wo bereits ihr Gepäck im Kofferraum eines Wagens verstaut wurde. Lysan war viel zu sehr mit Enricos unerwartetem Auftauchen
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