Romeo für immer, Band 02
Julia … sie wusste es nicht … «
»Was, mein Sohn?«
»Sie hat mich gehasst«, sage ich. »Ich habe es in ihrem Blick gesehen. Außerdem war da kein göttliches Licht in der Grabkammer und auch kein Engelsgesang, der sie in den Himmel begleitet hat.«
»Ich verstehe.« Er nickt verständnisvoll. »Dich quälen Zweifel.«
Ich seufze erleichtert. Er versteht mich. Wie konnte ich nur etwas anderes glauben?
»Auch Thomas hatte Zweifel. Genau wie Job. Bedeutende Männer werden immer von Zweifeln geplagt.« Ich halte den Dolch wieder in meiner Hand. Bruder Lorenzo muss ihn mir in die Hand gelegt haben, auch wenn ich nicht mitbekommen habe, wie er sich niedergebeugt und ihn aufgehoben hat. Der schwere Dolchgriff wärmt meine Fingerund erfüllt mich mit Hoffnung und Zuversicht. »Fürchte dichnicht. Leiste den Schwur und halte das Versprechen, das du deiner Julia gegeben hast. Und auch mir, der ich dein Bruder sein wollte.«
»Ich hatte einmal einen Bruder, damals.« Meine Stimme klingt seltsam entrückt, als habe ein Teil von mir bereits meinen Körper verlassen. »Er starb, als wir Kinder waren. Mein Vater war seitdem nie wieder derselbe.«
»Ich verstehe.« Der Mönch schiebt meinen Umhang zurück und legt meinen Arm frei. »Dein Vater war grausam zu dir.«
»Wenn ich zurückgehe, wird er mich töten. Er gibt mir die Schuld daran, dass meine Mutter vor zwei Tagen starb. Er sagt, meine Verbannung habe ihr jeden Lebensmut geraubt, dabei lag es an ihm.« Meine Arme zittern, als ich das sage. » Er hat ihr den Lebensmut genommen. Schon vor langer Zeit. Es war nicht meine Schuld!«
»Schsch.« Bruder Lorenzo legt mir seine Hand auf die Schulter und gibt mir neue Kraft. »Du wirst schon bald jenseits von Schmerz und Reue sein.«
Ich nicke und schaue auf meine rechte Hand, die jetzt den Dolch hebt. Es scheint fast, als würde jemand anders meinen Arm steuern, aber das kümmert mich nicht.
»Du wirst schon bald gar nichts mehr spüren.« Wie eine warme, tröstliche Wolke umhüllt mich Bruder Lorenzos Stimme.
Nichts mehr spüren müssen. Das klingt … wunderbar und verlockend. Nie mehr Reue und Scham verspüren. Nicht den tiefen Schmerz in meiner Seele spüren, dort, wo zuvor Julias Platz war. Seit sie nicht mehr da ist, herrschen dort nur noch Dunkelheit und Qual. Seit ich sie getötet habe.
Ich habe sie belogen und getäuscht, damit sie sich selbst das Leben nimmt. Ich habe das getan, und dieser schrecklichen Wahrheit werde ich niemals entfliehen können.
Der Nebel, der mich durch die Magie des Mönchs umgab, lichtet sich, und mein Verstand gehorcht mir wieder. Meine Hand umschließt den Dolchgriff jetzt fester. Dieser Söldner täuscht sich in mir, und das wird ihn zugrunde richten. Ich werde einer von ihnen sein, ihre Geheimnisse lernen und einen Weg finden, meine neu erworbene Macht für das Gute einzusetzen.
Das alles tue ich für sie.
Julia. Der Klang ihres Namens erfüllt mein ganzes Sein, als ich die Klinge über die Innenseite meines Arms ziehe. Ihre Stimme flüstert mir Worte der Zuversicht und Stärke ins Ohr, während mir die Seele aus dem Leib gerissen wird.
Und dann bin ich plötzlich woanders.
Ich befinde mich in einer Hülle aus Dunkelheit und Stille, die ich versuche auszufüllen. Ich dehne mich aus wie Gas. Ich stoße gegen die Hülle meines neuen Körpers, die mich von der Welt abgrenzt. Doch etwas ist anders. Mir ist bewusst, dass ich Arme und Beine habe, einen Bauch, ein Herz und alles, was einen Menschen ausmacht. Aber ich fühle … nichts. Weder Hitze noch Kälte noch die Steine, die schwer auf meiner Brust lasten. Auch nicht den Wind, der über den Hügel tost. Ich atme … nichts. Der Verwesungsgestank ist verschwunden.
Ich öffne die Augen und schaue blinzelnd in den Himmel über Verona. Das Rot der Sonne und das dunkle Blau der aufkommenden Dämmerung haben sich zu einem Violett vermischt. Es ist ein letztes, spektakuläres Spiel der Farben, bevor die Dunkelheit alles bedeckt. Doch auch dieses allabendliche Farbenspiel ist diesmal flach und weniger eindrucksvoll als sonst. Anstelle des riesigen, weiten Baldachins, der sich über die Erde wölbt, sehe ich nur ein schwaches Abbild ohne jede Tiefe.
Der Mönch schiebt sich in mein Blickfeld, er ist umgeben von einer schwarzen Aura, die ihn umhüllt. Mit meinen neuen Augen kann ich erkennen, wie schwarz und böse seine Seele in Wahrheit ist. Ich fürchte mich. Aber es ist nicht das Gefühl von Angst, wie ich es bisher kannte. Die
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