Romeo für immer, Band 02
Furcht ist größer und zugleich viel kleiner als zuvor; sie ist tief in mir verborgen, wie ein lautloser Todesschrei, der auf ewig von Stein umschlossen ist.
»Ich fühle … nichts … «
»Natürlich nicht.« Mit unbewegter Miene beobachtet er, wie ich versuche, mich von den restlichen Steinen zu befreien. »Habe ich dir nicht versprochen, dass du schon sehr bald nichts mehr spüren wirst?«
Die Bedeutung seiner Worte trifft mich bis ins Mark, und ich bin sicher, dass mein neues Herz kurz aussetzt, aber auch das fühle ich nicht. Ich stoße einen verzweifelten Schrei aus und befreie mich aus diesem Grab, doch aus meinem wahren Gefängnis gibt es kein Entkommen. Ich bin gefangen im Körper eines Toten. Wie unversehrt dieser Körper auch erscheinen mag, er ist bis ins Innerste verfault und verrottet. Jetzt erkenne ich das ganze Ausmaß meiner Torheit, und obwohl ich weiß, dass meine Seele verdammt ist, fühle ich … nichts.
Ich fühle gar nichts, in mir herrscht völlige Leere.
Jahrzehntelang spürte ich nichts, nur hin und wieder stiegen in mir Schatten der Erinnerung an Angst und Schmerz und sehr vage und verschwommen an ein Gefühl der Liebe hoch, die ich einmal in mir trug. Als ich Julias Seele im Körper eines anderen Mädchens wiederbegegnete, waren bereits fünfzig Jahre vergangen, und man hatte mir offenbart, dass ich als Söldner eingesetzt werde, damit ich mit meiner ehemaligen Liebsten um die Seelen wahrer Liebender kämpfe. Doch schon damals war die Leere in mir so groß, dass ich den Kampf mit ihr genoss. Ich genoss ihre Tränen, wenn es mir wieder einmal gelungen war, einen Mann dazu zu überreden, seiner Liebsten die Kehle durchzuschneiden und so ebenfalls zu einem Söldner zu werden.
Aber ihr Schmerz berührte auch etwas in mir. Er erinnerte mich an den Jungen, der ich gewesen war, bevor ich Gefallen am Blutvergießen gefunden hatte.
Weitere siebenhundert Jahre vergingen, in denen ich unzählige Gefechte gegen die Kämpferin der Liebe führte, zu der Julia geworden war. Und obwohl ich mich in einem Nebel aus Bosheit und Grausamkeit befand, erreichte mich Julias Schmerz. Selbst wenn sie zwischen ihren Einsätzen von der Erde verschwand und im Nebel des Vergessens auf ihren nächsten Einsatz wartete, war ich mir dessen bewusst, dass sie da war. Ich konnte ihre Verlorenheit im endlosen Grau des Nichts spüren und erfreute mich daran. Sie war wie eine gefangene Nachtigall, die für mich sang. Ich war ein verabscheuungswürdiges Ungeheuer. Doch der Gedanke an sie gab mir Stärke und Kraft, sodass ich begann, Pläne zu schmieden, und nach einem Ausweg suchte.
Ich liebte sie schon längst nicht mehr, trotzdem brauchte ich sie. Irgendwann war es mir gelungen, den Bann der Söldner zu brechen. Wir konnten beide in unsere ursprünglichen Körper zurückkehren und aus den Diensten der Unsterblichen entkommen, die uns so sehr getäuscht und hintergangen hatten.
Es gibt weder Himmel noch Hölle, und es gibt auch keinen allmächtigen Gott. Es gibt nur die nüchterne Logik eines Universums, das auf Ausgewogenheit basiert, darauf, dass sich alles die Waage hält und jedes Ding sein Gegengewicht hat. Die Söldner der Apokalypse und die Botschafter des Lichts kannten diese universelle Wahrheit und erhoben sich selbst zu Göttern. Das hätten Julia und ich auch tun können.
Hätten .
Hätte sie sich nicht in den Jungen aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert verliebt.
Hätte der Mönch mein Vorhaben nicht durchschaut und mir befohlen, Julia zur dunklen Macht zu bekehren.
Hätte man mich nicht gezwungen, meine Liebe ein zweites Mal zu töten, um sie vor einem schlimmeren Schicksal zu bewahren, als der Tod es ist.
Hätte der Mönch mich nicht gestraft, indem er mir zeigte, dass es Schlimmeres gibt als Vergessen und Gefühllosigkeit.
Nämlich die Erinnerung.
2
SOLVANG, KALIFORNIEN, GEGENWART
Romeo
I ch kauere in einer dunklen Ecke des stillgelegten Bahnhofs, beobachte, wie das Morgenlicht langsam die Vogelnester unter dem Dach erreicht, und halte die Decke fest umklammert, die ich einem der Obdachlosen geklaut habe, die dieses abbruchreife Gebäude ihr Zuhause nennen.
Sie waren zu fünft, einer von ihnen war, nach seiner schwarzen Aura zu urteilen, ein Söldner. Sie liefen laut schreiend davon, als ich zur Tür hereinkroch: Meine knochigen Hände schrammten über den mit Vogeldreck bedeckten Holzboden, und die von mir abfallenden verfaulten Fleischfetzen hinterließen eine Spur des Grauens.
Selbst der
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