Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
brannte regelrecht auf eine öffentliche Auseinandersetzung
in der Presse. Adler verfaßte jedoch keine Polemik gegen Rosa Luxemburg, denn Karl Kautsky hatte am 9. Juni 1902 noch einmal
in einem Brief bekräftigt: »Was die Rosa anbelangt, so begreife ich Dich in dieser Sache einfach nicht. Sie hat sicher ihre
unangenehmen Seiten – ich kenne sie nur zu gut, aber in der belgischen Sache schrieb sie nur, was wir alle hier dachten. Was
sie über den Generalstreik schrieb, war sehr gut; weniger gelungen der Artikel über die Gewalt, schon deswegen weil sie die
Gewalt gar nie definiert und das Wort verschiedenemale in verschiedenem Sinn gebraucht. Aber wenn Du sie höhnst, weil sie
auf die Gewalt nicht verzichtet, so darfst Du nicht vergessen, daß andere auf die Gewalt verzichten. Das ist aber zum mindesten
noch überflüssiger. |183| Eine Gefahr aber sehe ich in dem Artikel der Rosa nicht. Ich wüßte nicht, wer die Absicht hätte, sobald zur Gewalt zu greifen,
und wo es dazu kommt, hängt es nicht von Zeitungsartikeln ab. […] Wer aber auf die Gewalt verzichtet, was bleiben ihm für
Methoden übrig, unsere Sache zum Siege zu führen als die der Diplomatenschlauheit, die die kapitalistische Gesellschaft zum
Sozialismus bringen will, ohne daß diese es merkt, durch die Methoden Vollmar-David?« 111
Auf so etwas fall’ ich nicht herein!
Rosa Luxemburg hat in den Jahren, in denen sie als politisch erfahrene Disputantin in die Foren der europäischen Arbeiterbewegung
vorstieß, ihre privaten Interessen keineswegs völlig in den Hintergrund gedrängt. Ihr brachte selbst die politische Tätigkeit
viel persönliche Abwechslung, lernte sie doch auf ihren Agitationstouren neue Leute und verschiedene Gegenden kennen, besichtigte
aufmerksam Kulturdenkmale und las nach wie vor unentwegt. An Lektüre fehlte es Rosa Luxemburg nie. Sie gewann zunehmend auch
Freude daran, Freunde in ihre Wohnung einzuladen, mit ihrem Esprit wie ihrer Gesprächskunst zu brillieren und sich sogar an
kulinarischen Überraschungen zu versuchen.
Leo Jogiches, weiterhin strenger Kritiker und Förderer ihrer Arbeit, lebte zurückgezogen. Es gelang Rosa Luxemburg nur ganz
selten, ihn zum gemeinsamen Plausch mit engsten Freunden wie den Kautskys zu überreden. Er mied öffentliche Veranstaltungen,
ganz zu schweigen von persönlichen Auftritten. Konzert- und Theaterbesuche waren mit ihm nahezu ausgeschlossen. Im Höchstfall
ließ er sich zu Spaziergängen überreden. Hartnäckig bestand er darauf, »im Schatten, hinter den ›Kulissen‹ zu bleiben und
nicht als offizieller Leiter der Bewegung und Führer der (polnischen) Partei aufzutreten« 112 . Außerdem gab es in dieser Zeit einige Auseinandersetzungen über die weiterhin heftig diskutierte Frage des Kampfes um die
staatliche Souveränität für Polen, die er ebenso wie Rosa Luxemburg nicht als die Hauptaufgabe betrachtete. Reibereien mit
andersdenkenden polnischen Genossen blieben nicht aus. |184| Das polnisch klingende Pseudonym Jan Tyszka sollte u. a. dazu beitragen, als Russe und Jude in der polnischen Bewegung unvoreingenommener
akzeptiert zu werden. Als Tyszka »blieb er … eine dermaßen ›mythische‹ Gestalt«, erinnerte sich Władysław Feinstein, einer
seiner neuen Mitstreiter, »daß die Sozialdemokraten der jüngeren Generation … vermuteten, daß es sich sich dabei um ein neues
literarisches Pseudonym von Rosa Luxemburg handelte« 113 .
Durch ihren völlig unterschiedlichen Arbeits- und Lebensstil sowie die Tatsache, daß Rosa Luxemburg mit Aufgaben nahezu überhäuft
war, ihm es aber an direkten Verpflichtungen zeitweilig mangelte, blieben Konflikte zwischen Rosa und Leo nicht aus; er durchlebte
betrübliche depressive Phasen. Die Situation änderte sich, als Leo Jogiches für die SDKPiL, die ihre Tätigkeit 1902 merklich
reaktivierte, ab August 1902 mit der Auslandsarbeit betraut wurde, 1902 bis 1904 die Zeitschrift »Przeglad Socjaldemokatyczny«
sowie ebenfalls ab 1902 das Zentralorgan der SDKPiL »Czerwony Sztandar« herausgab und dafür sorgte, daß diese Publikationen
illegal in polnische Gebiete eingeschleust und dort verbreitet wurden.
Im Jahre 1903 kam endlich die Lösung des Scheineheproblems Rosa Luxemburgs in Sicht. Viele Dinge waren in den letzten Jahren
bei Behörden, Anwälten und in der Familie Lübeck zu klären gewesen, bis der sozialdemokratische Rechtsanwalt Hugo Haase vor
einem Schweizer Gericht
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