Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Form Kautskyscher Sympathie und Wertschätzung.
Unmittelbar nach Erscheinen des ersten Bandes der »Theorien über den Mehrwert« veröffentlichte sie im »Vorwärts« eine Rezension,
die im August 1905 in der »Prawda« nachgedruckt wurde. Sie würdigte Karl Kautskys editorische Arbeit als eine große Leistung,
rühmte seine außerordentliche Sorgfalt und das beeindruckende Einfühlungsvermögen für Marx’ fragmentarisch hinterlassene Geschichte
der bürgerlichen Ökonomie. Mit dem »Kristallkern Mehrwerttheorie« liege dieses Werk nun als »ein organisches Ganzes von hoher
Formreife« vor. 118 Rosa Luxemburg schöpfte in ihren Reflexionen aus dem großen Reservoir ihrer Kenntnisse über alle klassischen bürgerlichen
Ökonomen. Sie vertrat die Überzeugung, daß Marx’ Ansichten über Kategorien wie den Mehrwert oder die produktive Arbeit nichts
von ihrer Bedeutung eingebüßt haben und die Arbeiterbewegung weiterhin beeinflussen werden. Eine entscheidende Voraussetzung
dafür sei allerdings, sich in die Werke von Marx »mit ehrlichem Fleiß hineinzuarbeiten und die Brücke zwischen seinen wissenschaftlichen |187| Theorien und der auf ihnen basierten Praxis der Sozialdemokratie auf Schritt und Tritt zu finden, um dadurch sich selbst wie
die Massen aus der drohenden geistigen Verödung und Verflachung im Tageskampfe emporzureißen« 119 .
Sie konnte es sich durchaus erlauben, Redakteure, Journalisten und Parlamentarier zu einer Erweiterung des Wissensschatzes
aufzufordern, denn sie selbst ergänzte fortwährend ihre theoretischen Kenntnisse sowohl auf ihrem nationalökonomischen Spezialgebiet
als auch in viele andere Richtungen hin. Hatte sie die neueste Literatur nicht selbst zur Hand, konsultierte sie die umfangreichen
Berliner Bibliotheken. Durch ihren anregend kritischen Umgang mit Büchern weckte sie zudem die Neugier der anderen.
1901 und 1902 rezensierte Rosa Luxemburg alle vier von Franz Mehring herausgegebenen Bände »Aus dem literarischen Nachlaß
von Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle« ausführlich im »Vorwärts«. Souverän sah sie über persönliche Plänkeleien
und Meinungsverschiedenheiten in Redaktions- und Sachfragen hinweg und hob Franz Mehrings schriftstellerisches Vermögen hervor.
In seiner Einleitung zu den gesammelten Schriften habe er dem Leser Karl Marx als »eine bis zur Handgreiflichkeit plastische
Gestalt« 120 dargeboten, seine Verwandten, Lehrer, Freunde, Studien- und Kampfgenossen ganz lebendig dem Vergessen entrissen und die turbulente
historische Szenerie deutlich charakterisiert. Marx in seiner Zeit, seinen Kämpfen, sein Wachsen und Werden könnte mitempfunden
werden. Franz Mehring rekonstruiere auf eindringliche Weise Marx nach der Marxschen Methode, »den Menschen aus seinem Milieu,
das Milieu aus der Geschichte, die politische Geschichte aus der wirtschaftlichen« 121 zu erklären.
Rosa Luxemburg lenkte den Blick des Lesers nicht nur auf Inhalte und Zusammenhänge der im Band I enthaltenen besonders interessanten
Arbeiten von Marx und Engels, sondern setzte ihre Überlegungen in Beziehung zu ihren eigenen Erlebnissen mit den verschiedenen
Marx-Kritikern. Sie suchte nach der Haupttendenz der sogenannten Kritik des wissenschaftlichen Sozialismus in den eigenen
Reihen und fand heraus: Praktisch wie theoretisch ginge es der »Kritik« um die |188|
» Zersetzung
des Marxschen Lehrgebäudes und die Ausscheidung gerade derjenigen Elemente, die bis jetzt als seine Hauptpfeiler galten: der
historischen Begründung durch die objektive Notwendigkeit wie der wissenschaftlichen Begründung durch die ökonomische Analyse« 122 . Plötzlich wolle man sich wieder mit rein empirischen Beobachtungen und dem bloßen Bewußtsein der »Ungerechtigkeiten« als
Legitimation für die Arbeiterbewegung begnügen, die Marx für die wissenschaftliche Begründung des Sozialismus nicht im entferntesten
ausreichten. Sie unterstrich Mehrings Worte, daß die »geschichtlichen Wurzeln des Marxismus aufdecken heißt die Wurzellosigkeit
seiner ›Überwindung‹ enthüllen« 123 .
In den Mittelpunkt ihrer Rezension zu Band IV, der vor den Bänden II und III erschien, stellte sie Ferdinand Lassalle, denn
dieser Band enthielt dessen Briefe an Karl Marx und Friedrich Engels von 1849 bis 1862. Die Mehringsche Ausgabe präsentiere
Lassalle dem sozialistischen Proletariat als Sozialist, Denker, Revolutionär und Mensch und verdränge damit
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