Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Veränderungen« zugunsten des drangsalierten Volkes im »Paradiese des Kapitalismus«
trügerisch war. 88 1886, im ersten Akt des Wahlrechtskampfes, konnte der Anarchismus noch eine wesentliche Rolle spielen; Anfang der 90er Jahre
folgte |177| der zweite Akt: 1891 mit einem klug vorbereiteten und dirigierten Massenstreik, 1893 mit einem weiteren Massenstreik, der
eine erste Reform des Wahlrechts erzwang und den Sozialisten 1894 den parlamentarischen Einzug mit 28 Kammersitzen ermöglichte.
Doch das Pluralwahlrecht sicherte den Kapitalmagnaten die absolute Vorherrschaft. Um diesen Mißbrauch zu beseitigen, wurde
mit dem Wahlrechtsstreik am 14. April 1902 der dritte Akt eingeleitet.
Belgien biete das »klassischste Bild der politischen Klassenscheidung unter allen Ländern Europas« 89 . Ein Sieg im augenblicklichen Kampf könne »die sozialistische Partei leicht im Verein mit der linksliberalen Gruppe zur parlamentarisch
herrschenden, also
formell
regierungsfähigen, und zwar
nicht
von Gnaden eines zufälligen schlauen Ministerpräsidenten, sondern kraft historisch gebildeter politischer Verhältnisse zur
regierungsfähigen Partei machen« 90 . Das führe eine höchst diffizile Entscheidungssituation herbei.
Das Brüsseler Zentralorgan der belgischen Arbeiterpartei »People« hatte noch bis zum frühen Morgen des 20. April zum Generalstreik
aufgefordert und die Parlamentsauflösung verlangt. Nachdem das Parlament am selben Tag die Verfassungsrevision abgelehnt hatte,
wurden die 300 000 Streikenden nach Hause geschickt. Noch vor ihrem eigentlichen Beginn wurde damit die Aktion von Émile Vandervelde gestoppt,
und an den König erging der Appell, das Parlament aufzulösen. Warum hatten die belgischen Führer derart schnell aufgegeben,
obgleich sie sich kurz zuvor der Gewalt außerparlamentarischer Macht noch sicher gewesen waren?
Bereits am 22. April 1902 äußerte sich Rosa Luxemburg über die Ursache der Niederlage. 91 Für problematisch hielt sie vor allem, daß es eine Niederlage vor der eigentlichen Machtprobe war, daß Vandervelde die Streikenden
zu Besiegten erklärte, bevor es zum entscheidenden Kampf gekommen war. Die Ursache dafür sah Rosa Luxemburg in der mangelnden
taktischen Klarheit und Konsequenz der belgischen Führer. Sie habe zu einer zu großen Nachgiebigkeit gegenüber den Liberalen
geführt. Die einzig mögliche Erklärung für diese Widersprüche und Rätsel konnte nach Rosa Luxemburgs Meinung nur der Einfluß
der Liberalen sein: sie hätten Programm und Mittel des |178| Kampfes bestimmt; den sozialistischen Führern sei nur die Aufgabe zugefallen, »jeweilig die von ihren Alliierten ausgegebene
Parole der Arbeiterschaft zu übermitteln und zu dem liberalen Texte die nötige agitatorische Musik zu machen« 92 . Die Liberalen seien also die eigentlichen Führer, die Sozialisten nur deren gehorsame Willensvollstrecker und die Arbeiterschaft
eine passive Masse gewesen. Der Donner des Generalstreiks hatte sich in einen leeren Schreckschuß verwandelt. »Ein Generalstreik,
im voraus
in die Fesseln der Legalität geschmiedet, gleicht einer Kriegsdemonstration mit Kanonen, deren Ladung vorher vor dem Angesicht
des Feindes ins Wasser geworfen wurde.« 93 Dabei gebe es doch genügend Beweise, daß ein Streik eine ökonomische und politische, eine mittelbare und eine unmittelbare
Bedeutung habe, daß mit ihm nicht verantwortungslos geplänkelt werden dürfe und daß er durchaus in eine Straßenrevolution
umschlagen könne. Seine Leitung müsse in der Hand der sozialistischen Führer bleiben, und mit ihm müsse »die freie Entfaltung
der Volksbewegung, das Gespenst der Revolution« 94 drohen. Das Opfern der außerparlamentarischen Aktion für die parlamentarische verurteile letztlich beide zum Scheitern und
sei nichts anderes »als eine Wirkung desselben lauen, entnervenden Samums des Opportunismus, der seit einigen Jahren über
die Lande weht« 95 . Dadurch das Vertrauen der Arbeitermassen zu verlieren sei die Gefahr, die die sozialistische Bewegung zu einem Nichts degradieren
könne.
Émile Vandervelde veröffentlichte seine Gegendarstellung in der »Neuen Zeit«. 96 Er warf Rosa Luxemburg »notorische irrige Behauptungen« 97 vor und betonte, die sozialistischen Führer hätten sehr wohl jederzeit unabhängig von den Liberalen gehandelt. Nachdem der
König »zum größten Nutzen der republikanischen Idee« für die Kammerauflösung war, sei der
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