Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Generalstreik nutzlos geworden,
verteidigte er seine These, die Niederlage habe den Mut nicht geschwächt. 98
Aus Österreich schrieb Victor Adler an Karl Kautsky über das ihm »widerwärtige Treiben der Rosa u des Franz [Mehring] gegen
die Belgier« 99 . August Bebel und Karl Kautsky hätten schon längst gegen die Art und Weise Stellung nehmen müssen, wie mit den Belgiern in
der »Leipziger Volkszeitung« |179| Schindluder getrieben werde. Wer es mit dem Blut und dem Leben der Geschichte ernst nehme, dürfe sich doch solche Papierschlachten
nicht gefallen lassen. Postwendend antwortete Karl Kautsky: »Du bist über Rosa und Franz empört, ich über die belgischen Führer.
Ich kenne nicht alles, was Rosa und Franz in der Leipzigerin geschrieben haben […]. Aber was in der N. Z. von ihnen geschrieben
wurde, entspricht ganz meinen Anschauungen. Ich hätte manches weniger bissig gefaßt, aber sachlich dasselbe gesagt.« 100 Erbost entgegnete Victor Adler, es sei ganz unerhört, was da »zusammen gekohlt« werde. Er warf ihnen eine unerträgliche Überheblichkeit
vor. Sie alle würden sich in den Belgiern, und speziell in Vandervelde, täuschen, »verführt vielleicht d[ur]ch die nicht falsche
aber schiefe Annahme, daß er auf ›revisionistischem‹ Boden stehe« 101 .
»Lieber Victor!« antwortete Karl Kautsky am 23. Mai 1902, »ich fange an zu glauben, daß der Name Rosa Dich stets in eine so
gallige Stimmung versetzt, daß Du ihre Artikel nicht mehr unbefangen lesen kannst – und man kann Artikel nicht bloß bissig
schreiben, sondern auch bissig lesen. Wohin ich sehe, herrscht hier in Sache der Belgier nur
eine
Stimme, ausgenommen die ärgsten Opportunisten. Selbst harmlose bürgerliche Leute sind, ohne unsere Zeitungen zu lesen, in
der belgischen Geschichte zu unserer Auffassung gelangt – so erst kürzlich Staudinger, den Du nicht zu den Rabiaten rechnen
wirst – Du bist der Einzige, den diese Artikel der Rosa in Wut versetzen. Was den letzten anbelangt so sagte mir erst gestern
jemand, er wundere sich über die
Schwächlichkeit
mit der sie diesmal Vand.[ervelde] geantwortet habe. Er sagte das leider vor ihr, zu ihrem Verdruß, aber auch Triumph, da
ich es gewesen, der ihren Artikel abgeschwächt. Und auf Dich macht er nun einen so entgegengesetzten Eindruck. Ich begreife
das einfach nicht – und August, dem ich Deinen Brief zeigte, wogegen Du wohl nichts einzuwenden hast – begreift Dich auch
nicht.« 102
Der abschließende Artikel Rosa Luxemburgs, »Und zum dritten Mal das belgische Experiment«, 103 beschäftigte sich grundsätzlicher mit der Tauglichkeit revolutionärer Mittel, in diesem Fall mit dem Generalstreik und dem
Komplex Gewalt und Gesetzlichkeit. In der belgischen und deutschen Presse waren Stimmen aufgetreten, die die revolutionäre
Taktik für |180| überholt und den Generalstreik für unbrauchbar oder überflüssig hielten. Rosa Luxemburg wandte sich gegen die Vorstellung
von willkürlicher Revolutionsmacherei durch Führer oder Parteien, wie sie sich der Polizist oder der offizielle bürgerliche
Historiker einbilde. Revolution oder gesetzlicher Übergang zum Sozialismus sei keine Frage der Taktik, sondern der geschichtlichen
Verhältnisse und der konkreten Umstände. Die belgische Niederlage hätte doch einmal mehr bewiesen, »daß, wenn die sozialistischen
Legalisten die bürgerliche Demokratie als die berufene historische Form zur allmählichen Verwirklichung des Sozialismus betrachten,
sie nicht mit einer konkreten Demokratie, einem konkreten Parlamentarismus operieren, wie sie hienieden auf Erden ihr tristes
und schwankendes Dasein führen, sondern mit einer eingebildeten, abstrakten Demokratie, die, über allen Klassen stehend, in
ewigem Fortschritt und stetem Wachstum ihrer Macht begriffen ist« 104 . Ihr phantastischer Wahn von der Allmacht des Legalismus trübe diesen Leuten den Blick für Erscheinungen und Umtriebe der
gegnerischen Seite.
Den ersten Teil des Artikels widmete Rosa Luxemburg Betrachtungen über den Generalstreik, über seine Geschichte, seine Interpreten,
unterschiedlichen Formen und Voraussetzungen. Sie betonte, daß jedes Schablonisieren, jedes summarische Ablehnen oder Verherrlichen
Gedankenlosigkeit bezeuge. Zunächst sei zu unterscheiden zwischen dem anarchistischen Generalstreik, der dem Kapitalismus
oder kapitalistischen Kriegen ein generelles Ende setzen wolle, wegen seiner Undurchführbarkeit
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