Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
in Ministerportefeuilles
à la Millerand. Zweitens würde auch die Marxsche Hoffnung, am Tag nach dem Sieg der Bourgeoisie die Arbeiterklasse gegen die
Bourgeoisie zu führen, um einer proletarischen Diktatur Platz zu machen, zur »allmählichen Verwirklichung des Sozialismus«
durch parlamentarische Reformen eines sozialistischdemokratischen Kartells entarten. 127
Rosa Luxemburg war beim Studium aller vier Bände des literarischen Nachlasses von Marx, Engels und Lassalle und des 1. Bandes
der »Theorien über den Mehrwert« ganz in ihrem Element und vergaß die Misere des Alltags. Mehr als ein Jahr widmete sich die
ambitionierte Sozialdemokratin neben ihren sonstigen Arbeiten dem intensiven Studium von Briefen, Schriften und anderen Materialien
ihrer geistigen Väter. Immer wieder griff sie auch auf die bereits mehrfach studierten Hauptwerke, das »Kapital«, das »Kommunistische
Manifest« oder den »Anti- Dühring«, zurück.
Zum Kampf um die Lösung von Widersprüchen zwischen Ideal und Wirklichkeit schrieb sie in ihrem Artikel »Stillstand und Fortschritt
im Marxismus« am 14. März 1903 im »Vorwärts«: »Nur in dem Maße, als unsre Bewegung in vorgeschrittenere Stadien tritt und
neue praktische Fragen aufrollt, greifen wir wieder in das Marxsche Gedankendepot, um neue einzelne Bruchstücke seiner Lehre
auszuarbeiten und zu verwerten. Weil aber unsre Bewegung – wie jeder praktische Kampf – |191| noch lange mit alten leitenden Gedankengängen auskommt, nachdem sie bereits ihre Gültigkeit verloren haben, so schreitet die
theoretische Verwertung der Marxschen Anregungen nur äußerst langsam vorwärts.
Wenn wir deshalb jetzt in der Bewegung einen theoretischen Stillstand verspüren, so ist es nicht, weil die Marxsche Theorie,
von der wir gezehrt, der Entwicklung unfähig sei oder sich ›überlebt‹ habe, sondern umgekehrt, weil wir die wichtigsten geistigen
Waffen, die uns in dem bisherigen Stadium zum Kampfe notwendig waren, der Marxschen Rüstkammer bereits entnommen haben, ohne
sie damit zu erschöpfen; nicht, weil wir im praktischen Kampf Marx ›überholt‹ haben, sondern umgekehrt, weil Marx in seiner
wissenschaftlichen Schöpfung
uns
als praktische Kampfespartei im voraus überholt hat; nicht, weil Marx für unsre Bedürfnisse nicht mehr ausreicht, sondern
weil unsre Bedürfnisse noch nicht für die Verwertung der Marxschen Gedanken ausreichen.« 128
Wenige Wochen später agitierte Rosa Luxemburg im Reichstagswahlkampf für den erkrankten Ignatz Auer im Wahlkreis Glauchau-Meerane
und unterstützte den Kandidaten Alwin Gerisch im Wahlkreis Plauen-Oelsnitz. Arbeit und Erfolg dieser Wochen begeisterten sie,
und sie berichtete vor allem ihrem Leo lebhaft davon, der öffentlich weder mit ihr noch allein in Erscheinung trat. Ihre Begeisterung
ergab sich aus der Begegnung mit vielen neuen Menschen, denen sie in Vorträgen oder persönlichen Gesprächen Hinweise für sinnvolles
und leidenschaftliches Aufbegehren gegen soziale Ungerechtigkeit und politische Willkür geben konnte und bei denen sie auf
Zustimmung stieß. Sie fühlte sich inzwischen in der traditionellen Wahlkampfarbeit der deutschen Sozialdemokratie nützlich
und zu Hause, ohne wie viele Parlamentarier in Illusionen zu verfallen, daß im deutschen Kaiserreich mit einem steten Stimmenzuwachs
und der größer werdenden Zahl von Abgeordneten aus der Arbeiterbewegung Grundlegendes zu verändern sei.
|192| Bin überhaupt nicht gewöhnt,
ein Blatt vor den Mund zu nehmen
Nach den deutschen Reichstagswahlen wollte Rosa Luxemburg ihre neu gewonnenen Erfahrungen und theoretischen Kenntnisse intensiv
für die Gestaltung der organisationspolitischen Beziehungen zwischen polnischer und russischer Sozialdemokratie nutzbar machen.
In Nr. 1 und 2 der theoretischen Zeitschrift der SDKPiL »Przeglad Socjaldemokratyczny«, die Leo Jogiches in Berlin herausgab,
veröffentlichte Rosa Luxemburg 1903 einen ihrer grundlegenden Aufsätze zu Geschichte, Perspektiven und Zielen der polnischen
sozialistischen Bestrebungen und Bewegungen. Sie erinnerte an die Vorkämpfer in den Parteien »I. und II. Proletariat« in den
80er Jahren des 19. Jahrhunderts, vor allem an Helden wie Kunicki, Bardowski, Ostrowski und Pietrusinski, die auf den Mauern
der Warschauer Zitadelle den Märtyrertod gefunden hatten. Ihre Polemik gegen Verfälschungen und Verklärungen des Andenkens
an diese Menschen durch »Patrioten«
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