Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
anderer polnischer Parteien verdeutlichte zugleich, daß das Gedenken an solche Persönlichkeiten
nicht aus engen Parteiinteressen heraus zum Monopol erklärt werden dürfe. »Wir sind überhaupt nicht Anhänger dieses regelmäßigen,
alljährlichen Feierns der revolutionären Gedenktage, das schon durch seine mechanische Regelmäßigkeit zu einer alltäglichen
und, wie alles Gewohnheitsmäßige, in einem gewissen Maße zu einer banalen Sache wird.« 129 Dementsprechend gestaltete sie ihr »Andenken« zu einer differenzierten Geschichte der sozialistischen Idee und des frühen
Organisationslebens in Polen. Die Autorin informierte über Ursprünge und Programme der einzelnen Parteien, stellte deren Gründer,
z. B. Ludwik Waryński, vor, äußerte sich zu den Entstehungsbedingungen von Volkstümlerideologie, Verschwörertaktik, Terrorismus
und Nationalismus. Sie betonte deren Überlebtheit und Gefährlichkeit für die sozialistische Bewegung. Nur wenn polnische und
russische Sozialdemokraten zusammenarbeiteten, könnten sie bürgerlich-demokratische Institutionen und Rechte erkämpfen, zu
einer Massenbewegung für die künftige soziale und nationale Befreiung werden und den Zarismus stürzen. Ansätze |193| für eine solche solidarische Strategie sah sie im Zerfall der Volkstümlerbewegung, in der Vergänglichkeit des Blanquismus,
in der Organisation der Sozialdemokratie im Königreich Polen seit 1893 und in den Streiks des Industrieproletariats in Zentren
Rußlands Mitte der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts. Ihre Schlußfolgerungen aus den Anfängen der polnischen sozialistischen
Bewegung waren deutlich: »Wenn der polnische Sozialismus seine Bewegungsfreiheit wiedererlangt, um sich lediglich an die eigene
Tendenz seiner inneren Entwicklung zu halten, die dem System der gesellschaftlichen Verhältnisse im Königreich entspricht,
muß er zum sozialdemokratischen Standpunkt zurückkehren. Andererseits wird die Entwicklung der sozialdemokratischen Bewegung
im Königreich erst dann auf die Dauer garantiert sein, wenn der russische Sozialismus sich gleichfalls auf den Boden der Sozialdemokratie
stellt.« 130
Die noch im Entstehen begriffene Sozialdemokratie Rußlands bereitete sich auf den II. Parteitag der SDAPR vor, der vom 30.
Juli bis 23. August 1903 in Brüssel und in London stattfinden sollte. Für die SDKPiL nahmen Adolf Warski, Mitarbeiter der
Zeitung »Czerwony Sztandar« und der Zeitschrift »Przeglad Socjaldemokratyczny«, sowie Jakub Hanecki, ab 1903 Mitglied des
Hauptvorstandes der Partei, teil. Die Resolutionen für Programm und Statut, über die auf dem Parteitag vor allem zu entscheiden
war, hatte Wladimir Iljitsch Lenin entworfen. 131
Im Mai 1901 hatte Rosa Luxemburg den damals Dreißigjährigen das erste Mal bei Parvus in München gesehen. Lenin hatte sich
dort wegen der Herausgabe von Zeitungen, der »Iskra« und der »Sarja«, und seiner Schrift »Was tun?« streng konspirativ aufgehalten
und war am 12. April 1902 nach London weitergereist. Über die Begegnung mit der gleichaltrigen Polin ist nichts Näheres bekannt.
In den Briefen Rosa Luxemburgs taucht Lenin um diese Zeit nur beiläufig einige Male auf. Das änderte sich jedoch mit dem Parteitag.
Die Frage nach dem Selbstbestimmungsrecht der Nationen, das in § 7 (später § 9) des Parteiprogramms festgeschrieben werden
sollte, löste die erste scharfe Kontroverse zwischen Rosa Luxemburg und Lenin aus. Rosa Luxemburg hatte Adolf Warski strikt
angewiesen, gegen die Aufnahme des Selbstbestimmungsrechts |194| der Nationen zu stimmen und auf der Formulierung zu bestehen, daß es um »Institutionen« geht, »die allen dem Staatsverband
angehörenden Nationen volle Freiheit der kulturellen Entwicklung garantieren« 132 . Für Polen und Litauen müsse es um die Forderung nach Autonomie und um Demonstration gegen den Nationalismus gehen. 133 Was Lenin im Juli 1903 in der »Iskra« in seinem Artikel »Die nationale Frage in unserem Programm« zur Verteidigung des Selbstbestimmungsrechts
aller Nationen vorbrachte und die Art, in der er sich u. a. mit Karl Kautsky bzw. mit den Diskussionen in der PPS auseinandersetzte, 134 enttäuschte sie. Der moralische Wert des Anschlusses der SDKPiL an die SDAPR sei gering; sie könnten keinerlei weitere Zugeständnisse
machen. 135 Das legte Rosa Luxemburg Warski und Hanecki in zwei Telegrammen eindringlich ans Herz. Sie erklärte noch einmal, der Kampf
gegen die
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