Rosen für Apoll
Lücken.
Mit der Ilias schrieb er sich frei, er wagte den Schritt zum Schöpfer und dichtete die Odyssee. Verzeihen Sie mir das saloppe Wort: Es wird damals nicht anders gewesen sein, als es heute ist, man schickt seinem Bestseller einen zweiten nach.
Die schönste geistige Schöpfung Homers steckt nicht in der Ilias, natürlich nicht, sondern in seinem originalen Werk, in seiner Odyssee: Es ist die Erfindung und Inthronisierung der in der Philosophie und Geschichte so berühmt gewordenen »Sophrosyne« — der Besonnenheit. Mehr bedeutet das Wort nicht; aber der Augenblick, als Homer diese ethische Schönheit entdeckte, war ebensogroß wie der, als Jesus das Wort Nächstenliebe fand. Der in der Ilias noch wortgetreue Berichterstatter der wilden mykenischen Zeit setzte damit in seiner ureigenen Dichtung, der Odyssee, dem ganzen griechischen Mythos den Sordino auf.
Verzückt haben die Griechen dem Worte Sophrosyne gelauscht, in diesem schönen und für sie neuen Begriff, diesem weichen, auf der Zunge zergehenden Wort; daran gehalten haben sie sich nie.
... müssen wir von den Mykenern leider Abschied nehmen. Ganz neue Leute, die Dorer, kommen und machen mit den Enkeln der Ilias-Helden kurzen Prozeß. Die Art und Weise, wie sie das fertigbringen, ist beängstigend; und beängstigend bleiben sie fortan in der griechischen Geschichte: Es sind die späteren Spartaner, die »Preußen« unter den Hellenen. Oder sollten es die »Engländer« sein?
Zu Homers Zeiten war Mykene bereits untergegangen, Amyklai ein Schutthaufen und Tiryns ein Dorf mit einer Ruine. Geröll schloß die letzten Zugänge, Dornen überwucherten das »schattige Megaron«, und Ziegen weideten auf den grasbewachsenen Hügeln, unter denen die Könige mit ihren Goldmasken schlummerten. Schon Homer hat unter den Felstrümmern nicht mehr die Schatzkammer des Agamemnon geahnt. Die Spur war ausgelöscht, vom Winde verweht. —
Vom Sturm hinweggefegt. Es muß ein Sturm gewesen sein, der die zyklopischen Mauern einriß, denn die mykenische Epoche ist nicht langsam und sanft erloschen, sondern ebenso jäh beendet worden, wie die Mykener einst Kreta beendeten. Es ist erschütternd, an den Ruinen zu erkennen, daß die Befestigung von Mykene zum Schluß noch in aller Eile verstärkt und in Tiryns eine Fluchtburg angelegt wurde. Es muß damals eine furchtbare Gefahr im Anrollen gewesen sein, so schlimm, daß selbst die hartgesottenen Heldenenkel der Ilias zitterten. Kurz vor 1000 v. Chr. trat die Katastrophe ein.
Was war geschehen?
In der Ur-Heimat der Griechen, irgendwo im Weichsel-Donau-Gebiet, waren Völker in Bewegung geraten; vielleicht aus Not, aus Hunger, vielleicht aus der Unruhe des Herzens, wir wissen es nicht. Wir wissen nicht einmal, wer sie waren. Aber die rollende Woge prallte an andere Völkerstämme und setzte sie ebenfalls in Bewegung. Als der Wellenschlag im Norden Griechenlands angelangt war, war er bereits so stark, daß einige Stämme wie vom Katapult abgeschossen aus den Gebirgstälern herausflogen, vor allem zwei, die (fremdsprachigen) Thraker und die (griechischen) Dorer. Die Lawine der Thraker rollte nach Osten zum Hellespont, die Dorer brachen über die Landenge von Korinth in den Peloponnes ein.
Wer die Landkarte im Gedächtnis oder wenigstens vorn und hinten im Buch hat, weiß, daß es von Korinth nach Mykene nur noch ein Katzensprung ist. Die Dorer, schwindelfrei wie alle Habenichtse, machten ihn.
Sie hätten ihn auch lassen können; der Gedanke liegt ebenso nahe. Sie hätten sich den Herren des Landes, den Mykenern, unterwerfen können. Was ein richtiger moderner Mensch ist, für den ist dieser Fall sogar sonnenklar. Handreichen, verhandeln, ein »gutes Gespräch« führen, Koexistenz. Wenn die Griechen überhaupt etwas von dieser unserer feinen Kunst gewußt hätten, hätten sie in ihrer ganzen Geschichte so einträchtig leben können wie die heutige Welt.
Die Mykener aber, wie die Dorer, waren überhaupt nicht fein. Lassen Sie sich durch die Odyssee, die so reich an Beispielen der Gastfreundschaft ist, nicht täuschen; da spricht Homers Zeit. In der alten mykenischen Epoche genossen nur vornehme, interessante Fremdlinge und Handlungsreisende Gastrecht; der Namenlose, der verirrte Einzelne wurde sofort kassiert. Genau das wollten die Mykener nun mit den wandernden Dorern tun. Daß die Dorer reine Griechen, Blutsbrüder, waren, störte sie dabei nicht im geringsten.
Viele Dinge sind uns heute bei diesem Vorgang rätselhaft.
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