Rosenberg, Joel - Hüter der Flamme 05
ihr blieben nur die wenigen, die ihr von Anfang an mitgegeben worden waren. Was es für Sprüche waren und wie viele, bewahrte sie als ihr Geheimnis, doch jeder einzelne davon war unersetzlich.
»Warum die Aufregung?« Andreas Stimme klang voll und melodisch, wie eine Erinnerung aus Jasons Kindheit. »Dieser Zauber erfüllt seinen Zweck so gut wie alles andere und besser als das meiste davon.«
»Unsinn. Er macht dich nicht gesund. Er bewirkt lediglich, daß du gesund aussiehst, ob du es bist oder nicht. Das ist alles. Als ob man Salat mit Nitriten bestäubt. Erinnerst du dich an Nitrit?«
»Ich vermisse das Zeug nicht. Es löste immer gräßliche Allergien bei mir aus.«
Doria erwiderte ihr Lächeln. »Auch ohne das war es eine schlechte Idee, Nahrungsmittel damit zu behandeln. Es bewahrte nicht die Qualität, sondern nur die Farbe.« Sie griff nach Andreas Arm. »Verzichte auf Täuschungen. Trugbilder solltest du benutzen, wenn es sein muß, um dein Aussehen zum Schlechteren zu verändern, und niemals, um zu verdecken, was tatsächlich mit dir vorgeht. Jason, nimm den anderen Arm.«
Er gehorchte und fühlte ihn fest und rund in der Hand, bis seine Mutter ein zischendes Wort flüsterte, das in der Luft verging ...
Und ihr Arm schrumpfte in seinem Griff.
»Du hast dich selbst zum Narren gehalten, wie auch uns.« Doria schnalzte mißbilligend. »Du verfällst immer mehr. Wir werden dich aufpäppeln müssen, einverstanden?«
Andrea brachte ein schwaches Lächeln zuwege. »Kennst du dich damit aus?« Ihre Stimme klang rauh.
Dorias Lächeln war aufmunternd. »Ich habe mich schon immer sehr für die verschiedenen Arten von Ernährung interessiert, auch für Säuglings- und Kinderdiät. Walter nannte es mein Ammenstudium. Nun, ein Kindermädchen brauchst du jetzt. Dein Zustand ist nicht wirklich ernst - gutes Essen, Bewegung und Ruhe werden dich bald kuriert haben. Von deiner Werkstatt hältst du dich fern, verstanden?«
»Nein«, brauste Andrea auf. »Ich muß es wenigstens versuchen. Ich muß ihn finden, falls er noch lebt, falls er ...«
Doria seufzte. »Er ist tot, Andrea. Damit mußt du dich abfinden. Jetzt lasse ich dir ein Frühstück richten. Anschließend unternehmen wir einen langen
Spaziergang, bis du ordentlich müde bist. Dann wirst du schlafen und hinterher erwartet dich die nächste Mahlzeit und ein weiterer Spaziergang.« Ein freundlicher Ausdruck trat in ihr Gesicht. »Bis du wirklich so gut aussiehst, wie das Trugbild uns glauben machen wollte.«
»Du hast eins vergessen«, wandte Jason ein. »Wir haben heute abend eine Versammlung.«
Doria funkelte ihn an. »Dann werden du und Thomen eben den Vorsitz führen. Deine Mutter hat eine Verabredung mit einem Federbett. Verstanden?«
*Ich habe zwei Nachrichten. Eine von deiner Mutter: ›Ich komme zur Versammlung, keine Sorge.‹ Die andere ist von Doria und lautet: ›Den Teufel wird sie tun. Man könnte glauben, dir ist niemand wichtig, außer deiner eigenen kostbaren Person.‹ Aber sie meint es nicht so.*
Und wie ist deine Meinung?
*Ich stimme mit Doria überein. Wenn ihr beide, du und Thomen, nicht in der Lage seid, die Versammlung heute abend zu leiten, wissen wir zumindest für's nächstemal Bescheid.*
Kapitel drei
Vor der Ratssitzung
Unsere Schwerter sollen unsere Redner sein. Christopher Marlowe
Ich war immer der Meinung,
daß Reden besser ist als Kämpfen.
Dabei ist Reden nur meine drittliebste Beschäftigung.
Walter Slowotski
Jason Cullinane saß alleine in der großen Halle von Burg Biemestren und schaute sich um, als hätte er diesen Raum nie zuvor gesehen. In gewissem Sinne hatte er ihn auch nie zuvor gesehen. Nicht aus dieser Perspektive. Er hatte bei Tisch Vaters Platz eingenommen, doch ein offizielles Essen hatte seit Jasons Rückkehr nicht stattgefunden.
Er ging hinüber zu dem langen Eichentisch und setzte sich auf seinen eigenen Platz, seinen alten Platz neben Vaters Sessel, dann wanderte sein Blick zu einer ganz bestimmten Stelle an der Tischkante. Dort hatte er während eines endlosen, langweiligen offiziellen Essens spielerisch das Messer angesetzt und sich immer tiefer in das Holz hineingearbeitet, bis Vater merkte, womit Jason sich die Zeit vertrieb. Vater, dessen Hände so behutsam mit ihm umgingen wie stets, hatte Jason das Messer abgenommen und einen Seufzer großer Enttäuschung ausgestoßen. Andere Väter schlugen ihre Söhne, doch Karl Cullinane hatte immer behauptet, das sei nicht richtig.
Ein Mann,
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