Rosenmunds Tod
früher, nutzte nichts. Vier Tage nach ihrem achten Geburtstag hatte er auch die allerletzte Grenze überschritten.
Mit der Zeit tat es nicht mehr so weh, ihr Vater kam nach wie vor zu ihr und benutzte sie wie ein billiges Spielzeug. Zunächst hatte sie noch geweint, während er auf ihr lag und keuchte, aber irgendwann hatte sie keinen Schmerz mehr gespürt; und dann war der Zeitpunkt gekommen, von dem an sie beinahe gar nichts mehr empfand.
Als sie zehn war, trat auch ihr fünf Jahre älterer Bruder abends in ihr Zimmer, platzte ins Badezimmer, wenn sie duschte, und griff ihr zwischen die Beine, wenn sie vor ihm herlief. Ihr Vater wusste nicht nur davon, er fand es sogar sehr anregend; dann kamen die beiden zusammen zu ihr.
Ihre Mutter lernte einen anderen Mann kennen, kurz vor ihrem elften Geburtstag trennten sich ihre Eltern. Der Bruder blieb beim Vater, sie bei ihrer Mutter und dem zukünftigen Stiefvater. Er hasste das Kind, schlug zu, wenn es nicht gehorchte, aber wenigstens verging er sich nicht an dem Mädchen. Aus Kerstins Sicht ein wesentlicher Fortschritt.
Und jetzt hatte sie durch Svenja Onkel Hans kennen gelernt, der sich nicht einfach nahm, was er wollte, sondern sich mit ihr unterhielt, sie zum Eis einlud und Taschengeld zahlte. Eigenes Geld hatte Kerstin bis dahin nie gehabt.
Eine Woche nach dem Treffen in der Eisdiele war sie mit Svenja zu Onkel Hans gefahren. Mann, hatte der ein tolles Haus. So viele Zimmer für nur eine Person, dazu noch das kleine Schwimmbad unten im Keller, die Sauna, der Fitnessraum, einfach toll. Er hatte sie zwar ein wenig gestreichelt und angefasst, aber auf eine vorsichtige und liebevolle Art, wie sie es bisher nicht erlebt hatte. Während sie in dem Schwimmbad herumtobte, war Onkel Hans mit Svenja für eine halbe Stunde in ein anderes Zimmer gegangen. Als sie wiederkamen, hatte er für jeden eine Pizza in den Ofen geschoben und jedem der Mädchen einen Hundertmarkschein in die Hand gedrückt. Kerstin hatte vor Staunen den Mund gar nicht mehr zubekommen.
Rückend kam die U-Bahn zum Stillstand, die Bremsen kreischten leise. Kerstin schrak auf. Hauptbahnhof, eine Station musste sie noch weiterfahren, wenn sie nicht zu weit zu Fuß gehen wollte.
Erneut warf sie einen ängstlichen Blick auf die übrigen Fahrgäste. Niemand, der neugierig zu ihr herübersah, sie musterte oder beobachtete. Gestern hatte sie von Maras Tod erfahren und seitdem hatte sie Angst. Entsetzliche Angst.
Mara hatte sie bei ihrem vierten oder fünften Besuch bei Onkel Hans das erste Mal gesehen, eigentlich konnte sie dieses dickliche Mädchen nicht ausstehen, sie war vorlaut, arrogant und wusste prinzipiell alles besser. Aber Onkel Hans und die anderen Männer, die sie inzwischen ebenfalls kennen gelernt hatte, schienen sie zu mögen. Besser, Kerstin hielt den Mund, bevor Onkel Hans sie nicht mehr sehen wollte. Natürlich gefiel ihr nicht, was er mit ihr machte, bereits beim zweiten Besuch war er mit ihr statt mit Svenja in sein Schlafzimmer gegangen, aber trotzdem war es etwas anderes als mit ihrem Vater oder mit ihrem Bruder. Bei Onkel Hans hatte sie weniger das Gefühl, einfach nur benutzt zu werden.
Die nächste Haltestelle war erreicht, Kerstin sprang auf und aus dem Zug. Es war erst kurz nach zehn, der Berufsverkehr war längst abgeebbt, trotzdem war der Bahnsteig voll von Menschen. Das Mädchen biss sich kräftig in die dünne Haut auf dem Handrücken und stiefelte los.
Als sie den Tunnel der U-Bahn hinter sich gelassen hatte und auf der Rolltreppe nach oben fuhr, zog sie fröstelnd die Enden ihrer Jeansjacke zusammen. Nach dem Gewitter gestern Abend war es um einige Grade kühler geworden, obwohl die Sonne schon wieder strahlend am Himmel stand.
Vorbei an der leer stehenden Ruine des Rathauscenters lief sie Richtung Nordring. Bis zum Polizeipräsidium auf der Uhlandstraße waren es von hier aus gute fünfzehn Minuten zu Fuß. Kerstin steckte sich eine Zigarette an.
Mit jedem Schritt sank ihr Mut ein Stück tiefer in den Keller. War sie nicht dabei, Verrat an Onkel Hans zu begehen? Er war immer gut zu ihr gewesen, hatte sie nie geschlagen oder schlecht behandelt. Sollte sie wirklich zur Polizei gehen?
Ihr blieb nichts anderes übrig. Svenja und Mara waren ermordet worden – als sie heute das Foto in der Zeitung gesehen hatte, mit dem die Kripo um Zeugenaussagen und Hinweise bat, wo sich Mara in den Stunden vor ihrem Tod aufgehalten haben könnte, war ihr die Luft weggeblieben. Es konnte
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