Rosenpsychosen
sozusagen zwangsweise immer parteiisch zu sein.
Was sollte sie auch sagen, wenn man sich Vorwürfe wegen irgendwas machte. Jaja, machen Sie sich mal brav Vorwürfe, das ist schon richtig, denn das, was Sie getan haben, war ja wohl das Letzte! Und, ja, Ihr schlechtes Gewissen, das behalten Sie mal schön, geschieht Ihnen ganz recht! Haha, da hätte sie nicht viel Kundschaft, was? Stattdessen wurde alles schön weichgespült, patientengerecht aufgearbeitet und vorgekaut serviert: Es war Ihr gutes Recht, Sie trifft keine Schuld, neinnein, Sie haben alles so getan, wie Sie es tun konnten, Ihr Bestes gegeben, und das kann ja gar nicht falsch sein. Logisch. Man tut ja nur das, was man tun muss. Dann mal her mit der Generalamnestie für Kapitalverbrecher, haben sie ja nicht so gemeint, die Armen, haben ihr Bestes gegeben, jap! Ganz klare Sache. Ihn betrogen, ihn verlassen, von Knall auf Fall mit Baby im Arm fünfhundert Kilometer weit weggezogen – na und? War doch auch eine Chance für ihn. Sicher. Super Chance. Sie müssen sich wirklich gar keinen Vorwurfmachen. Sind ja auch nur ein Mensch. Klar. Hitler, der war auch nur ein Mensch. Krebs? Damit haben Sie nichts zu tun. Er. Aber Sie nicht. Alles allein seine Sache.
Na dann ist es ja gut, alles roger, dachte Marie, bezahlte und stand auf, um zu gehen, erst jetzt bemerkend, dass Helene neben ihr stand.
»Sie bestellen mich nachts hierher, und jetzt wollen Sie gehen?«
»Sieht so aus.«
»Ich stehe hier bestimmt seit zwei Minuten und beobachte Sie. Sie haben mich überhaupt nicht registriert, als ich reinkam, obwohl Dima mich sehr laut begrüßt hat. Als ich zu Ihnen gehen wollte, da musste ich stehen bleiben. Ich bin gar nicht weitergekommen, weil da eine große Glocke um Sie herum war. Sie haben auf den Tisch gestarrt, und … und Sie sahen unbeschreiblich traurig aus.«
»Na, das täuscht, bin müde.«
Helene bestellte eine große Flasche Wasser und bedeutete Marie, sich mit ihr zu setzen, woraufhin diese sich eine Zigarette ansteckte und einen zweiten Kir orderte.
»Sie sind falsch. Und ich bin auch falsch.«
»Was ist passiert?«
»Nichts.«
Helene nickte. Sie schaute Marie ernst und bereit zuzuhören an.
»Dieses Kopfnicken. Sie nicken so verständnisvoll mit dem Kopf, wenn ich sage, dass nichts passiert ist. Wieso nicken Sie, wenn ich ›nichts‹ sage? Wie ein Fernsehdoktor, wissen Sie? Wenn ihm jemand sagt, er habe manchmal beim Auftreten Schmerzen im linken Fuß, dann nickt der Doktor wissend in sich hinein, so wie Sie gerade, und der Zuschauer weiß schon: inoperabler Hirntumor.«
»Ist was passiert?«
»Nein, wirklich, nichts.«
»Und warum haben Sie mich angerufen?«
»Tja, das ist so eine Sache.« Marie guckte zur Decke und versuchte, Ringe aus Rauch zu blasen. »Ich glaube, ich wollte mal sehen, ob ich Sie im Notfall auch nachts einfach anrufen kann. Und ob Sie dann kämen. Und wie Sie dann aussähen. Ob Sie ein adrettes Kleid anhätten oder ein langes Nachthemd. Und wo Sie überhaupt herkämen.«
»Ist das Ihr Ernst?«
»Weiß ich doch nicht.« Marie stocherte mit ihrer Zigarette im Aschenbecher herum und drehte ihre Linke in die Perlenkette ein. Sie benahm sich wie ein bockiges Kind, was ihr selbst nicht entging, nur fand sie keinen Weg, irgendwie sinnvoll aus dieser Nummer herauszukommen. Ihre Kapazitäten, alle Sicherheitspuffer schienen aufgebraucht. Sie nahm Helenes Glas und schüttete das Wasser in den Aschenbecher. »Jetzt haben wir eine Riesensauerei auf dem Tisch. Gerolsteiner Asche.«
Dima und Helene wechselten einen schnellen Blick.
Ein Kellner kam und wischte wortlos den Tisch sauber.
»Sie sehen sehr traurig aus. Sprechen Sie es aus, was immer es ist. Reden hilft.«
Marie versuchte sich im gewohnten, jahrzehntelang trainierten Kunstlachen, brachte es aber gerade mal zu einem Grinsen. Bloß nichts fühlen, und schon gar nicht hier, und erst recht nicht als Therapieform. Das wollte sie: nichts. War sie nicht auch eine Kunstfigur, ihre Psychotherapeutin? Eine echte Frau, die, um etwas Bestimmtes zu erreichen, in eine Rolle schlüpfte, wodurch sie unecht wurde?
Was war denn überhaupt echt außer der Geburt und dem Tod. Und wenn ihre Psychotherapeutin doch echt war, wardann nicht auch Maries Kunststrahlen immer echt gewesen? Dann brauchte man es nicht wegzutherapieren. Es würde lediglich abgelöst von einem vermeintlich echten, in Wahrheit aber noch weniger echten, quasi impotenten Therapielachen. Marie wusste nur eines: Der
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