Rosenpsychosen
eine Harry-Potter-DVD, Chips und Kakao nach ihren eigenen Mengenangaben konsumieren und einen ganzen Abend ohne den Kontrolletti in Gestalt ihrer Mutter verbringen zu dürfen. Die Nachbarin hatte einen Schlüssel. Sie war angehalten, stündlich nachzusehen, ob die Sturmfreiheit den Kindern bekomme, und sie zu gegebener Zeit zur Nachtruhe zu bewegen.
So schnell also, fuhr es Helene durch den Kopf, als sie die Tür hinter sich ins Schloss fallen ließ, wird man zur Lügenschlampe, die ihre Kinder vernachlässigt und nur noch an das Eine denkt. Das Eine – wieso sagte man eigentlich zu dem Einen »das Eine«? Einerlei. Sie gehe zu einem Abendessen mit Kollegen, hatte sie gesagt und sich ganz mies dabei gefühlt. Aber bereits, als sie an dem ersten Schaufenster vorbeiging und unauffällig ihre Silhouette prüfte, schickte sich die Zerknirschung an zu verfliegen.
Am späten Nachmittag hatte Helene schwarze Lack-Peeptoes mit halbhohem Absatz und ein rot-schwarzes Etuikleid mit Reißverschluss am Rücken erstanden, wofür sie extra in die dreißig Kilometer entfernte Schlossallee gefahren war, um sicherzugehen, beim Einkauf unentdeckt zu bleiben. Die Verkäuferin hatte ihr zu rotem Nagellack auf den Zehen und zu einem passenden Armreif geraten. Beides hatte sie abgelehnt.Was zu viel war, war zu viel. Stattdessen hatte sie ihre Zehennägel farblos lackiert und, um den Glamour auf die Spitze zu treiben, farbloses Lipgloss aufgetragen. Anschließend hatte sie festgestellt, dass sie keine Handtasche besaß, die infrage käme, und hin und her überlegt, ob man wohl ohne gehen könne oder schnell noch eine besorgen solle – bis ihr die bahnbrechende Idee gekommen war, in den Kisten ihrer Mutter nachzusehen. Ein guter Gedanke: Die passende schwarze Unterarmtasche ihrer Mutter wollte getragen werden. Keine Frage – Helene war ein Vamp.
Das Taxi fuhr nur zehn Minuten und hielt direkt vor dem edlen Eingang des Hotels. Helene versagten beim Aussteigen die Knie. Sie fühlte sich unsicher, unpassend gekleidet, wenngleich sie sehr passend gekleidet war, und stakste hölzern in die Lobby. Dort saß Olaf und tat so, als lese er in einem Magazin. Er hatte sich umgezogen und sah, lässig in einen braunen Clubsessel geschmiegt, noch besser aus als vorhin. Besser auch als auf dem Kongress, besser als vor zwanzig Jahren. Ob Olaf immer besser wurde?
Als Helene, alle Kräfte bündelnd, auf ihn zuging, musste Olaf zweimal hinsehen. Ich kenne sie ein halbes Leben lang, dachte er, und doch ist sie neu. Sie wurde immer besser.
Helene eröffnete das Gespräch, als ginge sie das hier alles gar nichts an: »Na? Was liest du?«
»Nichts Weltbewegendes. Nur ein paar Terrorwarnungen für Deutschland.«
»Ah, na das geht ja noch.« Sie sah sich in der Hotellobby um, als suche sie jemanden, und nickte – ich will mit ihm ins Bett, sofort!
»Hast du Hunger?«, fragte Olaf. »Dieses Restaurant hierhat eine sehr einladende Terrasse und ist wahrscheinlich gar nicht schlecht. Französisch. Magst du Französisch?«
Das konnte Helene nur noch krächzend bestätigen, wobei sie abermals eine sehr gesunde Gesichtsfarbe annahm. Keine Frage – ein Vamp war etwas anderes.
In der Tat wurden einige wirklich delikate Kleinigkeiten gereicht, die Olaf auf Helenes Bitte hin nach seinem Gusto für beide bestellt hatte. Er wollte Champagner dazu ordern, doch Helene bestand darauf, nun auch fantasiegemäß Rosé zu trinken. Also bestellte er Rosé-Champagner – ein Kompromiss, mit dem es sich bestens leben ließ.
Nach dem zweiten Glas mischte sich schließlich die alte, entkrampfte Vertrautheit in die Unterhaltung. Helene ging es gut. Lediglich der reizvolle Gedanke, wie gut es ihr, wenn alles gut ginge, in einer halben Stunde erst ginge, konnte das Wohlgefühl toppen. Doch anstatt endlich die Weichen für eine gigantische Nacht zu stellen, fragte Olaf, ob sie einen Espresso haben wolle. Espresso klang nach Abschluss. Sollte sie etwa die Kurve bekommen und sich selbst einladen? Das wäre ja noch schöner, empörte sie sich, hörte sich aber gleichwohl jene Kurve ansteuern: »Wie sind eigentlich die Zimmer hier? Schön?«
Olaf machte keine Miene, die verraten hätte, dass er sich seit seiner Ankunft in der Stadt vorstellte, wie es wäre, Helene sein Zimmer zu zeigen. »Praktisch ohne Beanstandungen. Was sehr angenehm auffällt, ist das Fehlen von Matisse-Drucken. Das solltest du unbedingt auf dich wirken lassen.« Sprach’s und erbat die Rechnung.
Stocksteif
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