Rosenrot ist mausetot - Kriminalroman
tun, sondern kam offenkundig aus dem eben noch so seltsam beleuchteten Gästezimmer des Hirschen. Jetzt jedoch herrschte dort wieder Dunkelheit.
Ich beschleunigte meine ohnehin schon rasanten Schritte noch mehr, um der Sache auf den Grund zu gehen, doch ich war zu spät. Mehr als eine schattenhafte Gestalt in dunkler Kleidung, die den Wiesenhang hinabrannte, um rasch im nahen Wald unterzutauchen, sah ich nicht mehr. An eine Verfolgung war nicht zu denken, zumal der erste Gewitterregen einsetzte.
Was sollte ich jetzt tun? Einfach so in die Privatsphäre eines Hotelgasts einzudringen, ging ja eigentlich nicht. Andererseits deuteten der Knall und die offensichtliche Flucht einer verdächtigen Gestalt darauf hin, dass da etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Getrieben von einer Mischung aus hehren ritterlichen Absichten und purer Neugier beschloss ich nachzusehen.
Zum Glück konnte ich mein iPhone auch als Taschenlampe benutzen. Viel Licht spendete das Ding in der jetzt immer undurchdringlicher werdenden Dunkelheit zwar nicht, doch es reichte aus, um den Weg um die Hausecke herum zu finden. Dort hatte das fragliche Zimmer, wie ich wusste, einen kleinen Balkon, von dem man das auf der gegenüberliegenden Talseite gelegene Nachbardorf Rehetobel sehen kann.
Unter dem Balkon, dessen Brüstung vielleicht zweieinhalb Meter über dem Boden ihren oberen Rand hatte, war ein Spaltstock platziert, ein Stück Baumstamm, auf dem man üblicherweise Holz hackt. Jetzt aber diente er eher als Trittleiter, über die man auf den Balkon gelangen konnte. Messerscharf schloss ich, der vermutete Eindringling hätte wohl den Spaltstock zu diesem Zweck benutzt.
Im Zimmer war es noch immer dunkel und still. Erst leise, dann lauter, versuchte ich mich bemerkbar zu machen. Keine Reaktion. Zunehmend beunruhigt beschloss ich deshalb, denselben Weg wie der Einbrecher zu gehen, und stand nach kleiner Kletterei tatsächlich auf dem Balkon. Ich versuchte, in das Zimmer hineinzuleuchten, doch ausser der Spiegelung auf dem Fensterglas konnte ich nichts erkennen.
Ich bemerkte, dass die Balkontür halb offen stand. Es war heiss gewesen an diesem Tag, und der Gast wollte sich wohl etwas Kühlung verschaffen, was der Einbrecher genutzt haben dürfte. Ich klopfte und rief noch ein paarmal, wieder ohne Ergebnis. Dann schob ich die Balkontür vorsichtig ganz auf und leuchtete ins Zimmer. In diesem Moment zuckte ganz in der Nähe ein Blitz vom Himmel und erleuchtete das Zimmer fast taghell, unmittelbar gefolgt von einem gewaltigen Donnerkrachen.
Blitz und Donner können mich im Allgemeinen nicht erschrecken. Das tat dafür der Anblick umso mehr, der sich mir zunächst im hellen Blitzlicht und darauf wieder im spärlicheren Schein meines iPhones bot. Auf der näher zum Balkon hin liegenden Hälfte des Doppelbetts lag eine Gestalt. Unbeweglich. Was nicht weiter erstaunlich war, floss doch aus einer Wunde in der Brust noch immer ziemlich heftig Blut.
Als Angehöriger der schreibenden Zunft verfüge ich weder über Kenntnisse in Medizin noch über solche in Kriminalistik, doch hier war der Fall sonnenklar: Da lag eine Erschossene in ihrem Blute. Und zu helfen war ihr nicht mehr.
Noch mehr erschrak ich, als ich ein paar Schritte näher zum Bett trat, um das erstaunlich friedliche Gesicht der Toten zu betrachten. Vor Erstarrung war ich kaum fähig, mein Handy auf Telefon-Modus zu schalten und die mir mittlerweile sattsam bekannte Nummer der Polizei zu wählen.
Mitten in der Nacht wirkte der Trupp der in blütenweisse Overalls samt Kapuze gehüllten Spurensicherer noch bizarrer als sonst. Angestrahlt von starken Scheinwerfern bewegten sie sich im Zimmer und draussen, wobei schnell klar wurde, dass dort nichts zu finden sein würde. Zu heftig war der Gewitterregen gewesen, der längst wieder dem hier auf dem Land besonders gut sichtbaren Sternenhimmel gewichen war, als dass man noch irgendeine brauchbare Spur zu finden hoffen konnte.
Karl Abderhalden, Chef der Kriminalpolizei des Kantons Appenzell Ausserrhoden, hatte bei seinem Eintreffen etwas von «der über Leichen stolpert» gemurmelt. Und es hatte nicht sehr erfreut geklungen, was ich ihm trotz unseres freundschaftlichen Verhältnisses nicht übel nehmen konnte. Tatsächlich war es jetzt schon das vierte Mal, dass ich eine Leiche gefunden und ihm damit viel Arbeit verschafft hatte. So was mag niemand, und ich muss gestehen, dass mir diese Serie langsam auch unheimlich wurde. Ich meine, es gibt doch
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