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Rosenrot, rosentot

Rosenrot, rosentot

Titel: Rosenrot, rosentot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Arsenault
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den Baumtunnel nachzuzeichnen, den ich in Charlottes Buch gesehen hatte: gebogene silberne Bäume, die einen zarten Tunnel formten. Aber so sehr ich mich auch bemühte, am Ende sahen sie immer wie das Waldstück zwischen den Cooks und den Larsons aus. Das Waldstück, das Rose verschluckt hatte. Es kam mir vor, als wäre das erst gestern gewesen, dass ich mir das so vorgestellt hatte.
    Vielleicht flog ich nicht nach New York City oder zu einem anderen Planeten. Aber ich konnte ins Gestern zurückreisen. Ich konnte die Bäume zwischen den Häusern der Cooks und der Larsons in Silber nachmalen, bis sie zu einem wirbelnden Laubtunnel für Rose wurden, in den sie hineingehen und in dem sie verschwinden konnte.
    Ich lauschte Tobys Beinahe-Schnarchen und blickte in den wunderschönen Tunnel mit den silbernen Blättern. Er war unendlich lang, reichte zurück bis ins Gestern – sogar noch viel weiter zurück. Zurück bis zu dem Zeitpunkt, als Rose in den kleinen Wald hineinging und darin verschwand. Bis zu dem Moment, in dem ich erstmals fürchtete, dass sie tot sein könnte. Bevor ich das Gesicht von Tobys Vater gesehen hatte und an ein Skelett denken musste.
    Vor alldem war sie in diesen endlosen, schimmernden Tunnel gegangen und nicht mehr stehen geblieben. Ich musste mich bloß aus diesem Raum, dieser Zeit nehmen und mich in jene hineinversetzen. Ich konnte mich an heute, gestern und den Tagen davor vorbeidenken und so ruhig werden, dass ich dorthin gelangte. Ich stimmte mein Atmen auf Tobys ein, bis hinter meinen Augen alles weich silbern und weiß war.
    Silberne Äste und Blätter wanden sich ineinander und um Rose, bis ich sie nicht mehr sah. Sie bildeten ein richtiges Nest, in dem sie schlafen konnte. Nichts sonst. Nichts Beängstigendes. Nur ein Nest zum Schlafen. Für uns beide, für Rose und mich.

Zwanzig

    27. Mai 2006
    Zunächst sagten wir nichts – nicht bevor wir einigen Abstand zu Tobys Haus hatten und an dem kleinen Waldstück vorbei waren, das uns als Kinder so riesig erschienen war. Die hellgrünen Ahornblätter glitzerten im Wind.
    »Was hast du gesehen, Toby?«, fragte ich, als wir auch Mrs. Crowes Haus hinter uns gelassen hatten. »Was meinte sie mit ›Toby hat mich gesehen‹?«
    »Weißt du das wirklich nicht?«
    »Nein.«
    »Merkwürdig. Ich dachte lange Zeit, dass du es wüsstest. Dass du irgendwie über Rose Bescheid wüsstest und deshalb so fertig wärst.«
    »Was? Wovon dachtest du, dass ich es weiß?«
    »Ich dachte sogar, dass du versucht hast, dich umzubringen, weil du wie sie sein wolltest.«
    Als wir an dem Haus der Familie Hemsworth vorbeikamen, schwiegen wir beide.
    »Nur dass sie einen Grund hatte«, fügte Toby hinzu, »und du eigentlich nicht.«
    »Ich hatte einen Grund«, protestierte ich, als wir unten am Fox Hill angekommen waren und die Adams Road zu den Tennisplätzen überquerten. »Das habe ich dir doch gerade erklärt.«
    »Klang aber nicht sehr überzeugend.«
    »Ich habe auch nicht behauptet, dass es ein überzeugender Grund war. Was wäre denn zum Beispiel einer gewesen?«
    Wir überquerten den kleinen Kiesparkplatz und bogen in den von Bäumen gesäumten Sandweg ein, der zu den Tennisplätzen führte. Toby blieb einen Moment lang stehen.
    »Wie wäre es damit, schuld daran zu sein, dass jemand anders sein Leben lang gelähmt ist?«
    »Aber Toby ... Wie konnte sie ...?«
    Toby schüttelte den Kopf. »Gott, manchmal wünschte ich, ich wäre du. Jeder hat geglaubt, dass du irgendein finsteres Geheimnis mit dir herumschleppst. ›Arme Nora. So verängstigt. So still. Was war es nur? Was hat sie gesehen, das sie so verfolgt?‹ Wenn du schon diejenige warst, die von hier fliehen konnte und nie mehr zurückkommen musste, wieso konntest du dann nicht auch die sein, die es mit sich herumschleppen musste? Das war alles so unfair!«
    Inzwischen hatten wir die Tennisplätze erreicht. Toby hob den verrosteten Riegel hoch und hielt mir die Maschendrahttür auf. Wie immer spielte niemand hier Tennis, obwohl das Wetter geradezu ideal war. Der Wind frischte ein wenig auf, als wir um den Platz herumgingen. Grüne Wogen aus Laub waberten über die Erde gleich hinter dem Maschendrahtzaun.
    »Was hast du gesehen?«, fragte ich ihn noch einmal. »Ich möchte es wirklich wissen, Toby.«
    Im Gehen strich er mit einem Finger über den Zaun. »Ich sah sie an einem Abend, kurz bevor ... Es war nach dem Abendbrot und schon dunkel. Mein Dad schickte mich raus, um den Müll wegzubringen, runter an

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