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Rosenrot, rosentot

Rosenrot, rosentot

Titel: Rosenrot, rosentot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Arsenault
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brachte es mir an einem Abend im August bei, als ich bei ihr übernachtete. Es war wenige Tage vor Schuljahresbeginn. Sie hatte versucht, mich dazu zu bringen, dass ich eine außerkörperliche Erfahrung machte – oder eine AKE , wie sie es fachmännisch abkürzte. Die Liste in ihrem schwarzen Buch war überschaubar und die Tipps leicht verständlich. Charlotte hatte an ihrem Fenster gestanden und das restliche Abendlicht genutzt, um die Anweisungen vorzulesen, während ich auf ihrem Bett lag, die Augen geschlossen hatte und mir – wie befohlen – vorstellte, ich würde schweben. Dabei sollte ich nur an ein einziges Bild denken. Ich hatte mich für Charlottes altes Stoffeinhorn entschieden, weil es das Letzte gewesen war, was ich gesehen hatte, bevor ich die Augen zumachte. Es war dasselbe Stoffeinhorn, das ich mir früher so sehnsüchtig gewünscht hatte und das inzwischen so oft gewaschen worden war, dass es eher einem gehörnten Schaf ähnelte.
    »Atme im Rhythmus«, las Charlotte vor, »und lass deinen Mund leicht geöffnet.«
    Das war einfach. Aber warum sollte man seinen Körper verlassen wollen? Das hatte ich Charlotte schon fragen wollen, als wir das Buch zusammen beim Abendessen durchblätterten.
    Wir hatten Bilder von einem Mann gesehen, dessen Schatten seinen schlafenden Körper verließ. Die Bilder waren dunkel, und der Mann war nackt und hager – und wenn man ganz genau hinsah, konnte man beinahe die Beule zwischen seinen Beinen sehen. Ich fragte mich, ob Charlotte deshalb auf diesen Seiten verharrte; aber falls es so war, sagte sie es mir jedenfalls nicht.
    Als sie schließlich umblätterte, erschien eine Seite, die komplett mit der Zeichnung einer Frau gefüllt war, die eine AKE gehabt hatte: ein Tunnel aus Bäumen und Laub, in zarten Silberlinien gezeichnet – das war es, was die Frau gesehen hatte, als sie ihren Körper verließ.
    Dieses Bild hielt ich nun in meinem Kopf fest, als ich unter dem Trampolin kauerte und konzentriert ein- und ausatmete. Nicht dass ich vorgehabt hätte, meinen Köper zu verlassen – so wichtig es Charlotte oder jemand anderem auch zu sein schien. Doch das, was die Frau da gezeichnet hatte, wäre kein so übler Ort. Es gab sicher Schlimmeres als einen lauschigen Tunnel, dessen Boden mit runden Blättern ausgelegt war. Wenn ich doch nur für eine Weile dorthin verschwinden könnte, dann würde ich vielleicht alles vergessen.
    »Nora?«
    Ich fuhr zusammen, als Toby den Kopf zwischen den beiden Trampolinfedern hindurchstreckte.
    »Ich habe bei Charlotte angeklopft, und dann bin ich deinen Fußspuren im Schnee nachgegangen. Was machst du denn da unten?«
    Ich überlegte. Die Antwort hätte wohl lauten müssen, dass ich bloß allein hier herumhing, und einen Moment lang wollteich einfach sagen: Ich will alleine sein . Aber ich war mir nicht so sicher, ob das auch wirklich stimmte.
    »Ich mache eine Astralprojektion«, erklärte ich deshalb, während Toby schon in das Loch unter dem Trampolin kletterte. Er blieb gleich am Rand hocken und kam nicht näher.
    »Was ist das denn?«, wollte er wissen.
    »Das ist, wenn sich dein Geist von deinem Körper löst«, erläuterte ich.
    »Und wieso willst du das machen?«
    »Ich weiß nicht. Dann kann man über New York fliegen. Oder zu einem anderen Planeten.«
    »Ist das nicht bloß eine Art Fantasiereise?«
    »Nein!«, widersprach ich im typischen Charlotte-Tonfall. »Man ist richtig dort. Deine ... ähm ... Seele fliegt wirklich dorthin.«
    »Und was passiert mit dem Rest von dir, solange sie weg ist? Stirbt der?«
    »Nein, das glaube ich nicht.«
    »Na ja«, meinte Toby nachdenklich. »Ich würde mich das nicht trauen.«
    Ich schloss meine Augen.
    »Alles wird gut«, sagte er nach einer Weile.
    Ich machte die Augen wieder auf und starrte ihn an. Die Leute im Fernsehen sagten so was dauernd, doch im echten Leben hatten solche Sätze nichts zu suchen.
    »Halt den Mund.«
    »Warum?«
    »Weil keiner das sagt!«
    »Aber ich dachte, dass wir lieber ...«
    »Du darfst hierbleiben«, unterbrach ich ihn, »wenn du still bist.«
    »Okay«, erklärte sich Toby nach kurzem Überlegen einverstanden.
    Dann schloss ich die Augen wieder und atmete langsam ein und aus. Nach wenigen Minuten hörte ich, dass Toby dasselbe tat. Er atmete sogar so tief, dass ich mich fragte, ob er eingeschlafen war.
    Doch dann beschloss ich, ihn und alles andere aus meinem Kopf auszusperren. Ich strich den Raum in meinem Kopf weiß und versuchte anschließend, langsam

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