Rosenschmerz (German Edition)
möcht. Objektiv sollte ich sehr skeptisch sein. Aber subjektiv, da
bin ich voller Zuversicht, verstehst du? Das ist etwas anderes als voller
Hoffnung zu sein.« Sie schniefte laut. »Ich wünsch dir eine gute Nacht.«
Klick.
Verblüfft hielt Ottakring noch eine Weile den Hörer in der Hand.
Doch dann wurde ihm endgültig klar: Wenn sie morgen nicht geheilt war, war die
Katastrophe da. Kein Wunder, dass sie so kurz angebunden war. Ottakring
seufzte, klappte das Buch zu und löschte das Licht.
*
Einen knappen Kilometer Luftlinie entfernt saß Chili
Toledo in ihrer Wohnung vor einem Glas Edelvernatsch und zwei Glas
Mineralwasser. Sie grübelte darüber nach, wie sie Gewissheit erhalten konnte,
dass die Frau im Popelinemantel ihre Mutter war. Sie hielt es für das Beste,
ein paar Details aufzuspüren, die nur ihre Mutter wissen konnte. An viele
solche Dinge konnte sie sich nicht erinnern. Sie war sechs Jahre alt gewesen,
als Mutter sie und Vater mit dem Sänger verlassen hatte. Den Rest des Abends
verbrachte sie damit, nach solchen Fragen zu suchen. Zum Beispiel diese: »Wie
hieß die Katze, die wir damals hatten?«
Dieses Fragespiel besaß zwar alte James-Bond-Romantik, war aber
sicher wirksam.
DREIZEHNTER TAG
»Wie hieß die Katze, die wir damals hatten?«
»Katze? Welche Katze?«
Vater hatte Katzen gehasst. Chili jubilierte innerlich. Zog aber die
Stirn in Falten.
»Woher kommt unser Name ›Toledo‹? Was glaubte Papa?« Die fremde Frau
faltete ihre langen Arme vor der Brust. Erst jetzt bemerkte Chili den
Purpurfleck an ihrem Hals. Hatte sie den damals schon gehabt?
»Dein Vater war der Ansicht, dass er von einem spanischen Seemann
abstammte, der früher einmal in Flensburg hängen geblieben war.«
Richtig. Doch für eine Umarmung war es noch zu früh.
»Was tat Papa als Erstes, wenn er aufstand?«
Die Frau lachte laut. »Er rauchte eine. Bevor er dich oder mich auch
nur im entferntesten bemerkt hat, ging er erst einmal auf den Balkon und
rauchte eine.«
Prüfung bestanden. »Seit wann hast du diesen Fleck am Hals?«
Chilis Mutter führte die Hand zum Hals. »Der? Den hab ich mir später
geholt. Wie, möchte ich dir ersparen.«
Chili legte eine wilde, unstillbare Neugier auf Mutters
Vergangenheit an den Tag. Wieder und immer wieder wollte sie die entlegensten
Details aus ihrer eigenen Kindheit hören. Aus einem langarmigen, spitznasigen
Landstreichergeschöpf war tatsächlich eine Mutter geworden.
Die Frage war nur: Wohin damit?
Chili richtete die Couch her und holte den Reserveschlüssel aus dem
Versteck. Dann umarmte sie ihre Mutter und verließ die Wohnung, um zum Dienst
zu gehen.
Sie hatten Katharinas Laptop komplett ausgewertet. Das Ergebnis lag
auf ihrem Schreibtisch.
*
Die frühen Morgennachrichten brachten nichts Gutes, wie üblich. SPD im Umfragetief. 1. FC Nürnberg abstiegsgefährdet. In München immer mehr Clubs in Gründung, die das
Rauchverbot umgehen wollten. Bahnstreik, Ärztestreik und Krankenkassenklagen.
Ottakring flüchtete unter die Dusche und ordnete seine Gedanken.
Katharina Silbernagl war frei. Doch sie stand nach wie vor unter
Bewährung. In die Wohnung am Ludwigsplatz, die er überwachen ließ, war sie
nicht zurückgekehrt.
Kevin Specht hatte ihn mit seinem Spezl Morlock über den Tisch
gezogen. Das wollte er sich nicht bieten lassen.
Nicht nur Kirchbichler hatte unter dem Einfluss von Fluopram
gestanden. Auch Speckbacher war aus diesem Grund Dauerpatient bei Dr. Vach.
Und was war mit Scholl gewesen? Er hatte ebenfalls das gleiche
Mittel konsumiert. Diesmal hieß der behandelnde Arzt allerdings nicht Dr. Vach.
Scholl war vom Polizeiarzt an einen Spezialisten überwiesen worden.
Ja, galt es denn heutzutage als schick, unter Depressionen zu
leiden? Dass Sebastian Scholl womöglich mit Kirchbichler und Speckbacher etwas
gemeinsam hatte, daran mochte Ottakring gar nicht denken.
Was Paul Silbernagl anbetraf, glaubte er fest daran, dass der
Landwirt damals seine Frau absichtlich mit dem Traktor getötet hatte. Doch
dafür fehlten ihm Beweise. Würde er Katharina zu einer Aussage bewegen können?
Und er war weiterhin unerschütterlich davon überzeugt, dass
Silbernagl erpresst worden war. In der Folge musste das auf irgendeine Weise zu
Niki Kirchbichlers Tod geführt haben. Doch bei der Ebbe auf dessen Konten fand
er nicht den richtigen Ansatz.
Er musste sich ein deutlicheres Bild von Paul Silbernagls Leben
machen. Viel Zeit dafür blieb ihm nicht mehr.
*
Chili
Weitere Kostenlose Bücher