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Rot und Schwarz

Titel: Rot und Schwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stendhal
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wirst beim Hinabspringen das Genick brechen!«
    Das war ihre einzige Antwort und ihre einzige Sorge. Sie geleitete ihn an das Fenster des Kabinetts, dann versteckte sie bedächtig seine Kleider, und schließlich öffnete sie ihrem wutschnaubenden Manne.
    Ohne ein Wort zu sagen, blickte er sich im Zimmer um, ebenso im Kabinett. Dann verschwand er wieder.
    Julian bekam seine Sachen nachgeworfen. Er fing sie auf und eilte durch den Garten, abwärts dem Doubs zu. Im Laufen hörte er eine Kugel pfeifen und gleichzeitig den Knall eines Flintenschusses. »Das ist Rênal nicht!« dachte er. »So gut schießt der nicht!« Die Hunde liefen mit ihm, ohne zu bellen. Ein zweiter Schuß knallte. Offenbar war einer der Hunde in die Pfote getroffen, denn er begann kläglich zu heulen.
    Julian sprang eine Terrassenmauer hinunter und lief etwa fünfzig Schritte in der Deckung hin. Dann lief er wieder abwärts. Er vernahm Stimmen, die sich gegenseitig zuriefen, und deutlich erkannte er den Diener, seinen alten Feind, wie er einen Schuß auf ihn abgab. Aber schon hatte Julian den Fluß erreicht. Dort zog er sich an. Eine Stunde später war er bereits ein beträchtliches Stück von Verrières fort, auf der Landstraße nach Genf.
    »Wenn man mich verfolgt, so sucht man mich auf der Straße nach Paris!« sagte er sich.

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Zweiter Teil
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Erstes Kapitel
Die Freuden des Landlebens
O rus quando ego te aspiciam!
    Vergil
    » D er Herr wartet gewiß auf die Eilpost nach Paris?« fragte die Wirtin des Gasthofes, in dem Julian einkehrte, um zu frühstücken.
    »Es eilt nicht«, erwiderte Julian. »Heute oder morgen.«
    Während er so den Gleichgültigen spielte, traf die Post gerade ein. Zwei Plätze waren frei.
    »Was sehe ich? Meinen lieben alten Falcoz!« rief einer der Insassen, der von Genf her kam, dem zugleich mit Julian Einsteigenden zu.
    »Ich glaubte, du hättest dich in der Gegend von Lyon angesiedelt«, erwiderte der Angesprochene, »in einem der lieblichen Seitentäler der Rhone.«
    »Schön angesiedelt. Ich mache, daß ich hier fortkomme.«
    »Du, Saint-Giraud, der du kein Wässerchen trübst, was hast du denn Schlimmes verbrochen?« lachte der andre.
    »Gerade genug. Ich fliehe das schauderhafte Provinzleben. Ich liebe ländliche Ruhe und Waldeskühle. Das weißt du ja. Du hast mir oft vorgeworfen, ich sei Romantiker. Ich habe mein Lebtag nichts von Politik wissen wollen. Und gerade die Politik vertreibt mich.«
    »Zu welcher Partei gehörst du denn?«
    »Zu keiner. Das ist eben mein Unglück. Meine ganze Politik ist die: Ich bin ein Liebhaber von Musik und Malerei. Ein gutes Buch ist mir ein Erlebnis. Nächstens werde ich vierundvierzig Jahre alt. Wie lange habe ich noch zu leben? Fünfzehn, zwanzig, höchstens dreißig Jahre. Ich will einmal annehmen, die Minister seien in dreißig Jahren ein bißchen gescheitere Kerle als heutzutage. Englands Geschichte flößt mir für unsre Zukunft einige Hoffnung ein. Aber immer wird es Monarchen geben, die ihre Vorrechte vermehren wollen, immer Streber, die Abgeordnete zu werden trachten. Mirabeaus Ruhm und die Hunderttausende von Franken, die er verdient hat, lassen die reichen Provinzler nicht schlafen. Das nennen sie Liberalismus und Liebe zum Volke. Und was die Konservativen anbelangt: Zum Kammerherrn ernannt oder ins Herrenhaus berufen zu werden wird immerdar ihr Ideal bleiben. Jedermann will auf dem Staatsschiffe zu tun haben, denn das wird vorzüglich bezahlt. Für einen schlichten Passagier bleibt nirgends ein armseliges Plätzchen.«
    »Man sollte meinen, einem so ruhigen Manne sollte das ein leichtes sein! Was vertreibt dich insbesondre? Die letzten Wahlen?«
    »Mein Unglück liegt tiefer. Ich hatte Paris und die ewige Komödie satt, zu der einen die sogenannte Kultur des neunzehnten Jahrhunderts zwingt. Ich hatte wahren Durst nach schlichtem gemütlichem Leben. Und so kaufte ich mir das Gut Montfleury in den Bergen an der Rhone. Einen schöneren Sitz gibt es nicht unter der Sonne.
    Ein halbes Jahr lang machten mir der Pfarrer und die Krautjunker der Nachbarschaft den Hof. Ich gab ihnen zu essen und zu trinken. Ich erklärte ihnen: Ich habe Paris verlassen, um den Rest meines Daseins nichts mehr von Politik zu hören und zu reden. Ich halte mir nicht einmal eine Tageszeitung. Je weniger Briefe mir der Briefträger bringt, um so glücklicher bin ich.
    Der Pfarrer war andrer Meinung. Sehr bald war ich das Ziel von tausend aufdringlichen Bittgesuchen und Scherereien. Ich hatte

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