Rot und Schwarz
ihr, sondern Frohsinn. Offenbar, weil sie dabei ihre Reue vergißt. Wahrlich, eine hochgemute Frau! Welch ein Triumph, in solch einem Herzen zu herrschen!«
Julian war begeistert.
Frau von Rênal ergriff die Leiter. Julian, im Glauben, sie sei zu schwer für sie, sprang ihr bei. Aber sie nahm sie ohne seine Hilfe, als hebe sie einen Stuhl. Julian bewunderte ihre schlanke Gestalt, die so viel Kraft nicht verriet.
Sie trug die Leiter rasch in den Gang des zweiten Stocks und legte sie daselbst an der Wand zu Boden. Dann rief sie den Diener. Um ihm Zeit zum Ankleiden zu geben, stieg sie bis zum Taubenschlag. Als sie nach fünf Minuten wieder in den Gang kam, war die Leiter nicht mehr da. »Wo ist sie hin?« fragte sie sich. Wenn Julian nicht mehr im Hause gewesen wäre, hätte sie dies nicht beunruhigt. So aber, wenn ihrem Manne die Leiter auffiel: was dann? Dieser Nebenumstand konnte die schrecklichsten Folgen haben.
Frau von Rênal suchte das ganze Haus ab. Endlich entdeckte sie die Leiter unter dem Dache. Der Diener hatte sie dorthin getragen, offenbar um sie zu verstecken. Das dünkte Frau von Rênal sonderbar, aber sie behielt ihre Ruhe.
»Was kümmerts mich«, dachte sie bei sich. »In vierundzwanzig Stunden ist Julian über alle Berge. Mag dann geschehen, was will! Für mich gibt es sowieso nur Qual und Pein.«
Sie hatte die vage Vorstellung, daß sie ihr Leben lassen müsse. Was lag ihr am Dasein? Sie hatte geglaubt, von ihrem Geliebten auf immerdar getrennt zu sein, und doch war er ihr noch einmal wiedergeschenkt worden. Sie hatte ihn von neuem in ihren Armen gehabt. Und was alles er gewagt, um zu ihr zu dringen, bewies das nicht die große Liebe?
Sie berichtete Julian, was sich mit der Leiter ereignet hatte. Sodann fragte sie ihn: »Was soll ich meinem Manne sagen, wenn er durch den Diener erfährt, daß sich im Hause eine fremde Leiter gefunden hat?«
Sie sann eine kleine Weile nach. »Vielleicht bekommt er heraus, woher die Leiter ist. Aber vor vierundzwanzig Stunden auf keinen Fall!« Sie warf sich in Julians Arme und drückte ihn krampfhaft an sich. »Ach, so sterben!« rief sie und küßte ihn inbrünstig. Mit einemmal lachte sie wieder und meinte: »Deswegen sollst du aber hier nicht verhungern! Komm! Zunächst stecke ich dich in Frau Dervilles Zimmer, das stets verschlossen ist.«
Sie ging an das Ende des Ganges, um zu erspähen, ob jemand komme. Julian lief flink in die Fremdenstube.
»Mach ja nicht auf, wenn jemand klopfen sollte! Es wären höchstens die Kinder aus Unsinn bei ihrem Spiele.«
»Laß die Jungen einmal in den Garten unter das Fenster kommen! Ich möchte sie gern sehen. Laß sie sprechen!«
»Ja, ja!« rief Frau von Rênal im Hinausgehen und schloß den Geliebten ein.
Nach kurzer Zeit kam sie wieder, mit Apfelsinen, Zwieback und einer Flasche Malaga. Brot beiseite zu schaffen war ihr nicht möglich gewesen.
»Was macht dein Mann?« fragte Julian.
»Er setzt mit ein paar Bauern Kaufverträge auf.«
Es schlug acht Uhr. Jetzt ward es laut im Hause. Wenn die Hausherrin nicht zu sehen gewesen wäre, hätte man sie überall gesucht. Somit war sie gezwungen, Julian zu verlassen.
Nach einer Weile kam sie abermals zu ihm herauf und brachte ihm, jedweder Vorsicht zum Trotz, eine Tasse Kaffee. Sie fürchtete, er könne Hunger leiden. Nach dem Frühstück lockte sie die Kinder unter das Fenster des Gastzimmers. Julian fand, sie seien gewachsen, aber sie kamen ihm gewöhnlich vor. »Ist es so, oder habe ich sie früher mit andern Augen angeschaut?« fragte er sich. Er hörte, wie ihre Mutter mit ihnen von ihm sprach. Der Älteste bekundete Freundschaft und Verlangen nach dem früheren Hauslehrer, aber die beiden jüngeren hatten ihn wohl schon halb vergessen.
Herr von Rênal ging an diesem Vormittag nicht aus. Fortwährend lief er im Hause umher, treppauf, treppab, damit beschäftigt, Lieferungsverträge mit Bauern abzuschließen, die ihm seine Kartoffelernte abnehmen sollten. Bis zur Hauptmahlzeit konnte Frau von Rênal ihrem Gefangenen keinen Augenblick widmen.
Als zu Tisch geläutet wurde und angerichtet war, geriet sie auf den Gedanken, ihm einen Teller heißer Suppe hinaufzuschaffen. Vorsichtig tat sie das, aber im Gange, als sie sich leise der Türe näherte, hinter der Julian eingeschlossen war, erblickte sie plötzlich den Diener, der am Morgen die Leiter versteckt hatte. Er kam ebenfalls leise durch den Gang, als ob er horchen wollte. Wahrscheinlich war Julian unvorsichtig
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