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Rot und Schwarz

Titel: Rot und Schwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stendhal
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als weil er Latein verstand, eine wildfremde unnütze Sprache.
    Mit der behenden Grazie, die ihr eigen war, sobald sie sich unbeobachtet fühlte, war Frau von Rênal eben durch die Glastür des nach dem Vorgarten zu gelegenen Salons ins Freie getreten, da bemerkte sie am Tor einen Bauernjungen, der ihr beinahe noch wie ein Kind erschien, mit totenblassem Gesicht und Tränen in den Augen. Er hatte ein schneeweißes Hemd an und eine saubere ärmellose Weste aus rotblauem Wollstoff.
    Seine Gesichtsfarbe war so licht und seine Augen so sanft, daß Frau von Rênal in ihrem ein wenig romantischen Sinn zunächst dachte, es sei ein verkleidetes Mädchen, das dem Bürgermeister irgendein Anliegen vorbringen wolle. Sie bekam Mitleid mit dem armen Wesen, das dort an der Haustür nicht den Mut hatte, die Glocke zu ziehen. Deshalb ging sie hin. Im Augenblick hatte sie Kummer und Sorge über die bevorstehende Ankunft des Erziehers vergessen.
    Julian stand der Tür zugewandt und bemerkte das Nahen der Frau von Rênal nicht. Beim Klang einer leisen Stimme ganz dicht an seinem Ohre schrak er zusammen.
    »Was willst du, mein Kind?« fragte sie.
    Er drehte sich rasch um. Frau von Rênals Augen strahlten so viel Güte aus, daß sich ein Teil von Julians Schüchternheit verlor. Betroffen von ihrer Schönheit vergaß er alles, sogar den Anlaß, warum er hergekommen war.
    Sie wiederholte ihre Frage.
    »Ich soll hier Hauslehrer werden, gnädige Frau«, stotterte er endlich, und voll Scham über seine Tränen machte er den Versuch, sie wegzuwischen.
    Frau von Rênal fand kein Wort mehr. Sie blickten einander in die Augen. Julian hatte noch nie eine so gut gekleidete Dame gesehen und vor allem noch nie eine, die so glänzende Haut gehabt und mit so sanfter Stimme zu ihm gesprochen hatte. Und sie, sie schaute auf die dicken Tränen, die auf den eben noch blassen, jetzt aber rosigen Wangen des Bauernburschen standen. Plötzlich begann sie fröhlich und übermütig wie ein junges Mädchen zu lachen. Sie machte sich über sich selbst lustig und vermochte ihr Glück nicht zu fassen. So sah also der Erzieher aus, den sie sich als einen unsauberen und schlecht gekleideten Priester vorgestellt hatte, als Schinder und Quäler ihrer Kinder!
    »Aha!« sagte sie schließlich zu ihm. »Herr Sorel, der Lateiner!«
    Die Anrede ›Herr‹ war dem jungen Manne so ungewohnt, daß er einen Augenblick nachdachte.
    »Jawohl, gnädige Frau!« antwortete er befangen.
    In ihrem Glücke wagte Frau Rênal die Frage: »Nicht wahr, Sie werden die armen Kinder nicht grob behandeln?«
    »Ich – sie grob behandeln? Aus welchem Grunde?« fragte er erstaunt.
    Sie schwieg eine kleine Weile. Dann fuhr sie leise und in wachsender Erregung fort: »Nicht wahr, Herr Sorel, Sie werden gut mit ihnen sein? Versprechen Sie mir das?«
    Abermals hörte er sich in vollem Ernst ›Herr Sorel‹ nennen, dazu von einer so vornehmen Dame. Das übertraf seine kühnsten Träume. In seinen jugendlichen Hirngespinsten waren Damen nur dann so gnädig gewesen, mit ihm zu reden, wenn er eine schöne Uniform anhatte.
    Frau von Rênal war nicht minder überrascht über Julians zartes Gesicht, seine großen schwarzen Augen und sein hübsches Haar, das heute lockiger denn sonst war, weil er, um sich zu kühlen, eben den Kopf in das Brunnenbecken am Markt gesteckt hatte. Ihre größte Freude aber an diesem fatalen Hauslehrer, vor dessen Strenge und Grobheit ihr so sehr gebangt hatte, war seine mädchenhafte Schüchternheit. Für das friedsame Gemüt der Frau von Rênal war der Widerspruch zwischen dem, was sie eben noch befürchtet hatte, und dem, was sie jetzt sah, ein wahres Ereignis. Endlich gewann sie ihren Gleichmut zurück. Nun erschrak sie, daß sie mit einem Bauernburschen in Hemdsärmeln an der Haustür stand.
    Ziemlich verlegen sagte sie: »Kommen Sie mit herein, Herr Sorel!«
    Nie in ihrem Leben hatte eine ungetrübt angenehme Empfindung sie so stark erregt, und noch nie war ihr etwas so Erfreuliches plötzlich an die Stelle von Angst und Sorge getreten. Ihre netten Jungen, die sie so hegte und pflegte, sollten also doch keinem schmutzigen und nörgelnden Priester in die Hände fallen!
    Kaum in dem Hausflur, wandte sie sich nach Julian um, der ihr schüchtern folgte. Sie sah sein Staunen beim Anblick des prächtigen Hauses. Auch das gereichte ihm in ihren Augen zum Vorteil. Nur mit etwas konnte sie sich nicht abfinden: sie hatte das Gefühl, als müsse der Erzieher im schwarzen Rock

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