Rot und Schwarz
sie wohl stark überschätzt. Alles das hat dich zur Hauptperson von Verrières gemacht ...«
»Du vergißt meine Herkunft«, fügte Herr von Rênal hinzu. Er sah nicht mehr so finster aus.
»Nein, nein!« fuhr sie eifrigst fort. »Du bist einer der vornehmsten Edelleute der Gegend. Wenn der König machen könnte, was er möchte, wenn er den Aristokraten zu ihren Rechten verhelfen könnte, so würdest du zweifellos in der Pairs-Kammer sitzen und wer weiß was sein. Und bei dieser Superiorität willst du deinen Neidern eine Blöße bieten? Mit Valenod von seinem anonymen Briefe sprechen, das hieße vor ganz Verrières, – was sag ich! – vor Besançon und dem ganzen Regierungsbezirk öffentlich kundgeben, daß dieser Spießbürger, den ein Rênal unbedachterweise seiner Freundschaft gewürdigt hat, imstande war, ihn zu beleidigen. Wenn die Briefe, die du dir gewaltsam angeeignet hast, ein Beweis wären, daß ich Valenods Liebe erwidert hätte, so müßtest du mich töten. Das hätte ich dann tausendfach verdient. Aber zum Zeugen deines Zornes darfst du ihn niemals machen. Vergegenwärtige dir, daß alle unsre Nachbarn nur auf einen Anlaß lauern, über dich herzufallen! Vergegenwärtige dir, daß du im Jahre 1816 der Urheber gewisser Verhaftungen warst. Der Mann, der sich auf das Dach seines Hauses geflüchtet hatte ...«
»Ich vergegenwärtige mir«, unterbrach Rênal sie heftig, »daß du gegen mich weder Rücksicht noch Freundschaft kennst!« Die volle Bitternis der Erinnerung an jene Dinge sprach aus ihm. »Wenn ich wenigstens Pair geworden wäre!«
»Ich denke, mein Lieber«, erwiderte Frau von Rênal lächelnd, »daß ich einmal reicher sein werde denn du, daß ich seit zwölf Jahren deine Kameradin bin, und daß ich dadurch auch ein Wörtchen im Hause mitzureden habe, zumal in einer Angelegenheit wie der heutigen ...« Und mit kaum verhohlener Entrüstung setzte sie hinzu: »Wenn dir Julian mehr wert ist als ich, so bin ich bereit, den Winter bei meiner Tante zuzubringen.« Die letzten Worte brachte sie meisterhaft heraus. Es lag bei aller Höflichkeit Bestimmtheit in ihrem Auftreten. Herr von Rênal fügte sich innerlich. Aber wie das Kleinstädter machen: er redete noch lange hin und her und kam auf sämtliche Argumente noch einmal zurück. Seine Frau ließ ihn räsonieren.
Endlich, nach zwei Stunden nutzloser Rederei, bekam er es selber satt. Seine Kräfte waren zu Ende, zumal er die ganze Nacht vor Wut nicht geschlafen hatte. Sein Plan, wie er sich Valenod, Julian und schließlich Elisen gegenüber verhalten wollte, war gefaßt.
Ein- oder zweimal während dieser großen Szene war Frau von Rênal nahe daran, mit dem Manne, der zwölf Jahre lang ihr Lebensgefährte gewesen, Mitgefühl zu empfinden. Aber große Leidenschaft ist egoistisch.
Ihre fortwährende Erwartung, er werde den gestern abend eingegangenen Brief erwähnen, erfüllte sich nicht. Frau von Rênal fühlte sich nicht völlig sicher, ehe sie nicht wußte, was man ihrem Manne alles aufgeredet hatte. Ein Ehemann hat das Schicksal seiner Frau in der Hand. Er kann sie durch die öffentliche Verachtung morden. Dies geschieht, wenn sich ihr alle Salons verschließen.
Dieses Gefühl der Gefahr war so mächtig in Frau von Rênal, daß sie sich in ihr Zimmer zurückzog. Die Unordnung, in der sie es fand, entsetzte sie. Die Schlösser aller Schubfächer ihres hübschen Schreibtisches waren erbrochen. »Daran sieht man, wie erbarmungslos er gewesen wäre!« sagte sie sich. Der Anblick dieser Brutalität verscheuchte ihre letzten Skrupel.
Kurz vor Essenszeit kam Julian zurück. Beim Nachtisch, als sich die Dienstboten entfernt hatten, sagte Frau von Rênal trocknen Tones zu ihm: »Sie haben mich gebeten, Herr Sorel, auf vierzehn Tage nach Verrières gehen zu dürfen. Herr von Rênal hat Ihnen diesen Urlaub bewilligt. Sie können ihn antreten, wann es Ihnen beliebt. Aber damit die Kinder nichts versäumen, werden Ihnen ihre Arbeiten täglich zur Durchsicht zugehen.«
Herr von Rênal fügte griesgrämig hinzu: »Das heißt: von mir aus haben Sie nur acht Tage!«
Julian ersah aus seinem Gesicht die Nervosität eines arg gequälten Mannes.
»Er hat noch immer keinen festen Entschluß«, meinte Julian zu seiner Freundin, als sie einen Augenblick allein im Salon waren. Sie erzählte ihm rasch alles. »Heute nacht Näheres!« schloß sie vergnügt.
»Sind die Weiber doch verdorben!« dachte Julian. »Es ist ihnen ein Genuß, uns zu hintergehen.
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