Rot und Schwarz
Gäste erschienen mit ihren Frauen: der Steuerinspektor, der Zolldirektor, der Gendarmerieoffizier und ein paar andre Beamte. Einige reiche Liberale folgten.
Ein Diener meldete, das Essen sei angerichtet. Julian war sowieso verstimmt. Jetzt fiel ihm auch noch ein, daß jenseits der Wand des Eßzimmers arme Gefangene saßen, denen man vielleicht ihre Portionen geschmälert hatte, um den geschmacklosen Luxus dieser Wohnung zu bestreiten, der ihn betören sollte.
»Vielleicht hungern die armen Teufel«, dachte er bei sich. Die Kehle war ihm wie zugeschnürt. Es war ihm unmöglich, einen Bissen hinunterzuwürgen. Sogar das Sprechen fiel ihm schwer. Nach einer Weile kam es noch schlimmer. Ein Lied erklang in der Ferne, ein Gassenhauer, offenbar von einem Sträfling geträllert. Valenod warf einem der betreßten Diener einen Blick zu. Der Lakai verschwand, und alsbald verstummte der Gesang.
In diesem Augenblick präsentierte ein Diener Rheinwein in Römern. Julian nahm einen. Frau Valenod verfehlte nicht, ihn darauf aufmerksam zu machen, daß von diesem Wein an Ort und Stelle die Flasche neun Franken kostete.
Den Römer in der Hand, bemerkte Julian zu Herrn Valenod:
»Das garstige Lied hat aufgehört...«
»Das will ich meinen«, schmunzelte der Armenamtsvorstand, »Ich habe dem Saukerl das Maul stopfen lassen.«
Das war zuviel für Julian. Wohl hatte er bereits die Manieren der höheren Gesellschaft, aber noch nicht ihr Herz. Trotzdem er längst ein Meister der Heuchelei war, rann ihm eine dicke Träne über die Wange. Er versuchte, sie mit seinem grünen Römer zu verdecken, aber den Rheinwein zu trinken, das war ihm unmöglich.
»Er hat dem Ärmsten das Singen verboten«, sagte er sich, »und Gott läßt es ruhig geschehen!«
Zum Glück bemerkte niemand seine unpassende Rührseligkeit.
Der Steuerinspektor hatte ein royalistisches Lied angestimmt. Den Kehrreim brüllte man im Chor mit. »Schau!« rief Julians Gewissen ihm zu. »Diesem dreckigen Glück strebst du zu! Du erringst es nur, wenn du dich diesen Genossen und ihrer Weltanschauung beugst. Dann ergatterst du unter Umständen einen Posten mit 20 000 Franken Gehalt; aber, während du dir den Bauch vollschlägst, mußt du es fertigbekommen, einem armen Sträfling das Singen zu verbieten. Du gibst Diners von dem Gelde, das du seiner kargen Kost abknappst, und während du tafelst, muß er mehr denn sonst leiden ...«
»Großer Napoleon«, fuhr er in seinen Gedanken fort, »wie herrlich war deine Zeit! Damals kam man durch die Gefahren der Schlachten vorwärts; heutzutage, indem man stumm und feig zusieht, wie Unglückliche geknechtet werden!«
Sehr bald sollte er unsanft an die Rolle gemahnt werden, die er zu spielen hatte. Er war in so gute Gesellschaft nicht eingeladen worden, damit er träume und kein Wort rede. Ein reicher Leinwandfabrikant sprach ihn über den Tisch hinweg an, um ihn zu befragen, ob es Tatsache wäre, daß er im Neuen Testament so ungemein bewandert sei, wie man überall erzähle.
Es wurde plötzlich still im Zimmer. Im Nu war ein lateinisches Neues Testament in den Händen des Fragestellers; es war Herr Rubigneau. Auf Julians Aufforderung wurden die Anfangsworte einer beliebigen Stelle vorgelesen. Daraufhin sagte er die Fortsetzung aus dem Gedächtnis her. Es verließ ihn auch diesmal nicht. In der lärmigen Stimmung, wie sie zu Ende eines Festmahles zu herrschen pflegt, wurde dies Wunder laut gepriesen. Julian sah die Gesichter der Damen um sich herum strahlen. Etliche waren nicht häßlich. Eine gefiel ihm sogar: die Frau des sangeslustigen Steuerinspektors.
»Ich schäme mich, vor den Damen so lange Lateinisch zu reden«, sagte er mit einem Blick auf diese Frau. »Wenn Herr Rubigneau so gütig wäre, den erstbesten lateinischen Satz vorzulesen, so will ich versuchen, ihn aus dem Stegreif zu übersetzen.«
Diese zweite Probe seines Könnens setzte seinem Ruhme die Krone auf. Es wurde weiterhin viel gelacht.
Als er sich empfehlen wollte, wurde Julian von Frau Valenod noch ein Viertelstündchen zurückgehalten. Die Kinder mußten ihm den Katechismus vorleiern, wobei sie die lächerlichsten Fehler machten, die außer ihm niemand bemerkte. Er hütete sich wohlweislich, sie zu verbessern. Von neuem machte er sodann Anstalt, sich zu verabschieden, aber er mußte noch eine Fabel von Lafontaine über sich ergehen lassen.
»Das ist ein sehr unmoralischer Dichter«, sagte er zu Frau Valenod. »Mitunter wagt er das Erhabenste in den
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