Rot und Schwarz
überhaupt noch eine Frau? Sie könnte längst gestorben sein. Dann käme eine solche Blamage für mich nicht mehr in Frage, Dann wäre ich Witwer und verbrächte das halbe Jahr in Paris in der ersten Gesellschaft.« Der Gedanke an dies Witwertum stimmte ihn einen Moment glücklich. Alsbald aber geriet er in Nachgrübeln, wie er hinter die Wahrheit kommen könne. Ob er nachts, wenn alles schlief, vor Julians Zimmer eine dünne Schicht Kleie streuen solle? Dann wären frühmorgens Fußspuren zu sehen. »Unsinn! Das Mittel taugt nichts!« widersprach er sich selber. »Elise, der Racker, merkt es sicher auch, und dann wissen sämtliche Dienstboten, daß ich eifersüchtig bin.«
Aus einer Stammtischgeschichte fiel ihm ein, daß sich ein Ehemann seiner Hahnreischaft dadurch vergewissert hatte, daß er an der Tür seiner Frau ein Haar derartig mit Wachs befestigt hatte, daß es beim öffnen zerreißen mußte. Nach so stundenlanger Unentschlossenheit dünkte Herrn von Rênal dieses Aufklärungsmittel probat. Eben beschloß er, es zu versuchen, als seine Frau, die er lieber tot gesehen hätte, hinter den Bäumen auftauchte und auf ihn zugeschritten kam.
Sie war im Dorf gewesen. In der Kirche hatte sie die Messe gehört. Nach der legendären Überlieferung gehörte die kleine Dorfkirche von Vergy ehedem zum Schlosse des Ritters von Vergy. Als Frau von Rênal zu beten begann, fiel ihr die alte Sage ein. Und eine Vorstellung ließ sie nicht wieder aus dem Banne. Immerfort sah sie im Geiste ihren Mann, der auf der Jagd scheinbar zufällig Julian gemordet hatte und sie abends zwang, sein Herz zu essen.
Als sie die Kirche verließ, sagte sie sich: »Mein Schicksal hängt davon ab, was er bei sich denkt, wenn er mich angehört hat. Wer weiß, ob ich nach dieser verhängnisvollen Viertelstunde je wieder Gelegenheit habe, mit ihm zu sprechen. Mein Mann ist kein bedachtsamer und überlegener Kopf. Wenn ich meinen schwachen Verstand anstrengte, wüßte ich wohl, was er sagen und tun wird. Er hat die Macht, über sein und mein ferneres Schicksal zu entscheiden. Diese Entscheidung hängt von meiner Geschicklichkeit ab. Es muß mir gelingen, diesen Hitzkopf zu leiten. Er ist in der Wut blind und sieht dann alle Dinge nur halb. Großer Gott, ich habe Gewandtheit und Kaltblütigkeit nötig. Woher soll ich die nehmen?«
Wie durch ein Wunder fand sie Gleichmut und Ruhe, als sie den Garten betrat und von weitem ihren Mann erblickte. Seine unordentliche Kleidung und sein wirres Haar verrieten ihr, daß er nachts nicht geschlafen hatte.
Sie reichte ihm einen erbrochenen, wieder zusammengefalteten Brief. Herr von Rênal sah seine Frau verstört an.
»Eine wahre Schande!« erklärte Frau von Rênal. »Ein Mann, der verdächtig aussah, der dich angeblich kennt und dir Dank schuldig zu sein behauptet, hat mir diesen Brief soeben zugesteckt, als ich hinterm Garten des Notars vorüberging. Eins verlange ich von dir: daß du Herrn Sorel zu seinen Eltern zurückschickst, und zwar auf der Stelle!«
Diese Forderung Frau von Rênals war vielleicht voreilig. Sie wollte die ihr entsetzliche Notwendigkeit, zu reden, möglichst schnell hinter sich haben. Als sie wahrnahm, daß ihre Worte in ihrem Mann Freude erweckten, war sie selig. Aus seinen starren, auf sie gerichteten Blicken schloß sie, daß Julian richtig vermutet hatte. Anstatt über diese im Grunde unheilvolle Tatsache betrübt zu sein, dachte sie lediglich: »Wie klug ist doch Julian! Wie feinfühlig! So jung und solche Menschenkenntnis! Wie weit wird er es noch bringen! Aber dann, ach, dann wird er mich vergessen!«
Ihre heimliche Bewunderung des Mannes, den sie über alles schätzte, nahm ihr den letzten Rest von Aufregung. Sie frohlockte über ihren Mut. »Ich bin seiner nicht unwürdig!« lobte sie sich in stiller inniger Wonne.
Aus Furcht, sich zu binden, sagte Herr von Rênal kein Wort, sondern machte sich zunächst an das Studium des zweiten anonymen Briefes, des zusammengeklebten. Darnach meinte er müden Tones: »Man macht sich in jeder Weise über mich lustig.« Bei sich setzte er hinzu: »Abermals Beschuldigungen, die zu untersuchen wären! Immer wieder wegen meiner Frau!«
Es fehlte nicht viel, so hätte er sie auf das gröblichste beschimpft. Nur die Aussicht auf die Erbschaft in Besançon hinderte ihn mühselig daran. Er mußte seinen Zorn an irgend etwas auslassen, und so zerknüllte er diese zweite Denunziation, wobei er mit großen Schritten auf und ab lief. Er hatte das
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