Rot und Schwarz
Dame der Gesellschaft hätte dieser eitle Geck noch keine geistreich-gefühlvolle Episteln gerichtet?«
»Er hat dir Briefe geschickt?«
»Einen ganzen Stoß!«
»Zeig mir diese Briefe! Augenblicklich! Ich befehle es dir!«
Herr von Rênal redete sich in seiner ganzen Länge auf.
»Ich werde mich hüten«, antwortete sie mit kühler Artigkeit. »Wenn du wieder vernünftig bist, werde ich sie dir gelegentlich geben.«
»Nein, auf der Stelle, Schockschwerenot!« schrie er in wilder Wut, aber doch in glücklicherer Verfassung denn je in den letzten vierundzwanzig Stunden.
»Schwöre mir«, sagte Frau von Rênal feierlich, »daß du mit dem Armenamtsvorstand niemals seiner Briefe wegen Streit beginnen wirst!«
»Streit oder nicht Streit! Ich kann ihm sein Amt entziehen. Und unbedingt muß ich die Briefe auf der Stelle haben! Wo sind sie?«
»In einem Schubfach meines Schreibtisches. Aber den Schlüssel gebe ich auf keinen Fall her.«
»Ich werde ihn schon aufkriegen!« rief er und rannte in das Zimmer seiner Frau.
In der Tat erbrach er mit einem Stemmeisen den kostbaren, schön gemaserten Mahagonischreibtisch. Er war in Paris gekauft, und oft hatte Herr von Rênal ihn mit dem Rockzipfel abgewischt, wenn er nur einen Hauch auf der Politur zu bemerken glaubte.
Frau von Rênal flog die einhundertundzwanzig Stufen im Turm hinauf zum Taubenschlag und knüpfte ihr weißes Taschentuch ans Guckfenstergitter. Sie war überglücklich. Tränen in den Augen, spähte sie nach dem Bergwald. »Gewiß«, dachte sie, »harrt Julian dort unter einer der buschigen alten Buchen meines glücklichen Zeichens.« Lange lauschte sie. Sie verwünschte das eintönige Gezirp der Grillen und das Gurren der Tauben. Ohne dieses störende Geräusch hätte sie gewiß einen Jodler vom Felsenvorsprung her vernommen. Ihr sehnsüchtiges Auge überflog die Höhen, an denen das Wipfelmeer wie eine endlose Wiese hing. »Er könnte doch so gescheit sein und mir durch irgendein Zeichen kundtun, daß sein Glück dem meinen gleicht«, dachte sie tieftraurig. Sie blieb auf dem Turm, bis sie Angst bekam, ihr Mann könne sie oben suchen.
Sie fand ihn in grimmiger Stimmung. Er war dabei, die Tiraden Valenods zu überfliegen, die wenig geeignet waren, in aufgeregter .Verfassung gelesen zu werden.
Frau von Rênal paßte einen Augenblick ab, wo ihr Mann in seinem lauten Schimpfen innehielt, um zu Worte zu kommen: »Ich kann mich nicht beruhigen. Julian muß aus dem Hause! Mag er ein noch so guter Lateiner sein, ein grober Bauer ist und bleibt er doch. Zuweilen läßt er es am Takt fehlen. Er bildet sich ein, wunder wie artig zu sein, wenn er einem überschwengliche geschmacklose Komplimente macht. Und das tut er häufig. Wahrscheinlich hat er sie aus irgendwelchen Romanen...«
»Unsinn! Er liest ja gar keine«, fuhr Herr von Rênal dazwischen. »Das weiß ich bestimmt. Denke nur nicht etwa, ich sei so blind, daß ich gar nicht wüßte, was in seiner Stube vorgeht!«
»So! Um so schlimmer für ihn! Wenn er seine törichten Komplimente aus keinem Romane hat, dann erfindet er sie eben selber. In dem Tone wird er von mir auch in Verrières gesprochen haben. Aber das brauchen wir nicht einmal anzunehmen ...«
Frau von Rênal machte eine kleine Pause und tat, als ginge ihr ein Licht auf. Sodann fuhr sie fort: »Julian braucht in dem Stile nur mit Elise geschwatzt zu haben. Das ist genau dasselbe, als hätte er es Valenod ins Gesicht gesagt ...«
»Donner und Doria!« schrie Rênal und schlug so derb auf den Tisch, daß alles im Zimmer wackelte. »Der anonyme Brief mit der verfluchten Kleberei und Valenods Süßholzgeraspel haben das gleiche Papier!«
»Das hat lange gedauert!« dachte Frau von Rênal. Sie gab sich den Anschein, als drücke diese Entdeckung sie zu Boden. Gleichsam sprachlos setzte sie sich still in der andern Ecke des Salons auf das Sofa.
Die Schlacht war so gut wie gewonnen. Nur hatte Frau von Rênal viel Mühe, ihren Mann daran zu hindern, zu dem vermeintlichen Schreiber des anonymen Briefes zu laufen und ihn zur Rede zu stellen.
»Sagst du dir nicht selbst, daß es das allerverkehrteste wäre, Valenod ohne genügende Beweise eine Szene zu machen? Du bist vielbeneidet. Und warum? Wegen deiner Fähigkeiten. Wegen deiner vorzüglichen Amtstätigkeit. Wegen deiner geschmackvollen Bauten. Wegen der Mitgift, die ich dir eingebracht habe und ganz besonders wegen der großen Erbschaft, die uns von unsrer guten Tante her winkt, wenngleich man
Weitere Kostenlose Bücher