Rot wie das Meer
Finn, mein älterer Bruder Gabriel und unsere Eltern. Alles in allem lebte unsere Familie ziemlich zurückgezogen. Finn baute die ganze Zeit Sachen zusammen und nahm sie wieder auseinander und sammelte in einer Kiste unter seinem Bett Ersatzteile. Gabe war auch nicht gerade ein großer Redner. Er war sechs Jahre älter als ich und schien all seine Energie fürs Wachsen aufzuwenden; mit dreizehn war er schon einen Meter achtzig groß.
Unser Dad spielte die Blechflöte, wenn er zu Hause war, und unsere Mutter vollbrachte jeden Abend aufs Neue die wundersame Vermehrung von Brot und Fisch, auch wenn ich sie erst als Wunder wahrnahm, als Mum nicht mehr da war.
Man konnte nicht sagen, dass wir ein schlechtes Verhältnis zu den anderen auf der Insel gehabt hätten. Unser Verhältnis untereinander war nur einfach besser. Ein Connolly zu sein, stand immer an erster Stelle. Das war die einzige Regel. Man konnte auf den Schlips treten, wem man wollte, solange dieser Schlips keinem Connolly gehörte.
Jetzt ist es Mitte Oktober. Wie jeder Herbsttag auf der Insel beginnt auch dieser hier kalt, doch die aufgehende Sonne verleiht ihm nach und nach Wärme und Farbe. Ich greife mir Striegel und Bürste und schrubbe den Schmutz aus Doves sandfarbenem Fell, bis meine Finger warm werden. Als ich sie schließlich sattele, ist sie sauber und ich bin voller Staub. Sie ist meine Stute und meine beste Freundin und ich rechne jeden Tag damit, dass ihr etwas Schlimmes zustößt, weil ich sie so sehr liebe.
Als ich den Sattelgurt festziehe, drückt Dove mir ihre Nase in die Seite und zwickt mich ganz sanft, dann zieht sie ihren Kopf schnell wieder zurück; sie liebt mich auch. Heute werde ich nicht lange reiten können; ich muss früh zurück sein und Finn dabei helfen, Kekse für die Läden im Dorf zu backen. Ich bemale auch Teekannen für die Touristen, und da es nicht mehr lange bis zum Rennen ist, habe ich Bestellungen im Überfluss. Wenn das Rennen vorbei ist, werden sich bis zum Frühjahr keine Besucher vom Festland mehr hier blicken lassen. Der Ozean ist einfach zu unberechenbar in der kalten Jahreszeit. Gabe wird den ganzen Tag unterwegs sein, bei der Arbeit im Hotel in Skarmouth, wo er die Zimmer für die Zuschauer des Rennens herrichtet. Als Waisenkind auf Thisby muss man hart arbeiten, um über die Runden zu kommen.
Dass auf unserer Insel nicht besonders viel los ist, wusste ich gar nicht, bis ich vor ein paar Jahren anfing, Magazine zu lesen. Für mich fühlt es sich nicht so an, aber Thisby ist winzig: viertausend Menschen auf einem Felsbrocken, der aus dem Meer ragt, viele Stunden vom Festland entfernt. Hier gibt es nichts als Klippen und Pferde und Schafe und schmale Straßen, die sich an baumlosen Feldern vorbei nach Skarmouth schlängeln, dem größten Ort auf der Insel. Die Wahrheit ist: Solange man es nicht anders kennt, ist einem die Insel genug.
Nur dass ich es anders kenne. Und sie ist mir trotzdem genug.
Ich sitze auf und reite los, meine Zehen kalt in den abgewetzten Stiefeln, während Finn in unserem Morris in der Auffahrt sitzt und sorgfältig einen Riss im Beifahrersitz mit schwarzem Klebeband verarztet. Der Riss ist eine Hinterlassenschaft von Puffin, unserer Hofkatze. Wenigstens hat Finn auf diese Weise gelernt, den Wagen nicht mit heruntergekurbelten Fenstern stehen zu lassen. Er tut so, als sei er genervt von der Frickelei, aber ich weiß, dass er sie insgeheim genießt. Es ist einfach nur Finns Grundsatz, nie allzu fröhlich zu wirken.
Als Finn mich auf Dove näher kommen sieht, wirft er mir einen seltsamen Blick zu. Früher einmal, vor letztem Herbst, hätte sich dieser Blick in ein Lächeln verwandelt, er hätte den Motor angeworfen und wir hätten ein kleines Rennen veranstaltet, ich auf Dove gegen ihn im Auto, obwohl er eigentlich noch zu jung zum Autofahren war. Viel zu jung. Aber das war uns egal. Wer wollte es uns auch verbieten? Also rasten wir los, ich durch die Felder, er über die Straße. Wer als Letzter am Strand war, musste dem anderen eine Woche lang das Bett machen.
Aber so ein Rennen hat es nun seit fast einem Jahr nicht mehr gegeben. Nicht seit unsere Eltern in dem Boot gestorben sind.
Ich lasse Dove kehrtmachen und kleine Kreise im Garten neben unserem Haus laufen. Sie ist ungeduldig und zu aufgedreht, um sich an diesem Morgen zu konzentrieren, und mir ist zu kalt, um sie zu zwingen, am Zügel zu gehen. Sie will galoppieren.
Der Motor des Morris brummt auf. Als ich mich umdrehe, sehe
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