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Rot wie das Meer

Titel: Rot wie das Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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und wir stehen direkt neben dem Morris. Wasserpferde verabscheuen Metall.
    Tatsächlich galoppiert das Wasserpferd an uns vorbei, ohne auch nur langsamer zu werden. Ich sehe, wie Finn schluckt, der Kehlkopf in seinem dürren Hals hüpft auf und ab, und ich weiß, wie er sich fühlt; auch mich kostet es alle Kraft, mich nicht zu rühren, bis das Wesen endlich wieder im Wasser verschwindet.
    Sie sind wieder da.
    So geht es jeden Herbst. Meine Eltern haben sich nie für das Rennen interessiert, aber ich kenne die Abläufe auch so. Je weiter es auf November zugeht, desto mehr Pferde spuckt das Meer aus. Oft schließen sich dann die Inselbewohner, die an einem der nächsten Skorpio-Rennen teilnehmen wollen, zu Jagdgesellschaften zusammen, um die neuen Capaill Uisce einzufangen, was sehr gefährlich ist, denn die Pferde sind ausgehungert und stehen noch unter dem Bann der See. Für die Leute, die im selben Jahr das Rennen reiten wollen, ist das Auftauchen der neuen Capaill das Startsignal, mit dem Training der Pferde aus den Jahren zuvor anzufangen – Tiere, die vergleichsweise sanftmütig sind, bis der Geruch der Herbstsee auch in ihnen die Magie wachzurufen beginnt.
    Den ganzen Oktober hindurch bis zum ersten Novembertag ist die Insel ein einziges Gitternetz aus sicheren und unsicheren Gebieten, denn wenn man nicht gerade selbst für das Rennen trainieren will, hat man kein Interesse daran, einem wild gewordenen Capaill Uisce
    über den Weg zu laufen. Unsere Eltern haben immer versucht, uns von allem fernzuhalten, was mit den Uisce -Pferden zu tun hatte, aber das war unmöglich. Mal fehlten in der Schule Freunde, weil in der Nacht zuvor ihr Hund von einem Uisce- Pferd getötet worden war. Mal musste Dad auf dem Weg nach Skarmouth einen übel zugerichteten Kadaver umfahren – der klägliche Rest eines erbitterten Kampfes zwischen einem Wasser- und einem Landpferd. Mal läuteten am Mittag die Glocken der St.-Columba-Kirche zur Bestattung eines Fischers, der unerwartet am Strand angefallen worden war.
    Finn und mir muss niemand erklären, wie gefährlich diese Tiere sind. Wir wissen es. Wir denken jeden einzelnen Tag daran.
    »Komm«, sage ich zu ihm. Als er, auf seine dürren Arme gestützt, neben mir aufs Meer hinausstarrt, sieht er sehr jung aus, plötzlich wieder mein kleiner Bruder, obwohl er in Wirklichkeit in diesem seltsamen Niemandsland zwischen Kind und Mann gefangen ist. Mit einem Mal überkommt mich das Verlangen, ihn vor dem Schmerz zu schützen, den der Oktober unweigerlich mit sich bringen wird. Aber im Grunde ist es nicht der Schmerz des diesjährigen Oktobers, der mich bekümmert; es ist der Schmerz des vergangenen.
    Finn antwortet nicht, sondern schlüpft nur zurück in den Morris und schlägt die Tür zu, ohne mich auch nur anzusehen. Der Tag ist jetzt schon verdorben. Und dabei ist Gabe noch nicht mal zu Hause.

2
    Sean Beech Gratton, der Sohn des Metzgers, hat eine Kuh geschlachtet und lässt das Blut gerade für mich in einen Eimer laufen, als ich die Neuigkeiten höre. Wir stehen im Hof hinter der Metzgerei und der Widerhall unserer Schritte an den Steinmauern ringsum macht das Schweigen zwischen uns nur noch greifbarer. Es ist ein herrlicher, kühler Tag und ich bin rastlos und trete von einem Fuß auf den anderen. Der Steinboden unter mir ist uneben, wo ihn die Wurzeln von Bäumen angehoben haben, die es schon lange nicht mehr gibt, und er ist schmutzig, ein Netz aus Braun und Schwarz in Form von Flecken und Spritzern und Rinnsalen.
    »Beech, hast du schon gehört? Die Pferde kommen«, sagt Thomas Gratton zu seinem Sohn, als er in der offenen Tür zu seinem Laden auftaucht. Er ist schon mit einem Fuß auf dem Hof, als er mich sieht, und hält mitten im Schritt inne. »Sean Kendrick. Ich wusste gar nicht, dass du hier bist.«
    Ich antworte nicht und Beech grunzt: »Ist vorbeigekommen, als er gehört hat, dass ich schlachte.« Er deutet auf den Kuhkadaver, der nun, ohne Kopf und Beine, von einem Holzgestell baumelt. Der Boden ist voller Blut, weil Beech den Eimer nicht schnell genug unter die Kuh gestellt hat. Der Kopf des Tiers liegt in einer Ecke des Hofes auf der Seite. Thomas Grattons Mund bewegt sich, als wolle er etwas zu Beech über den Anblick, der sich ihm bietet, sagen, aber er tut es nicht. Thisby ist voll von Söhnen, die ihre Väter enttäuschen.
    »Hast du es schon gehört, Kendrick?«, fragt Thomas Gratton. »Bist du deswegen hier, anstatt auf deinem Pferd zu sitzen?«
    Ich bin hier,

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