Rote Lilien
Rosalind Harper Ashbys Erstgeborener und eine ausgesprochene Wohltat für das Auge. Das kam ihr natürlich nicht in den Sinn, wenn sie an ihn dachte. Jedenfalls nicht oft. Er war Freund, Kollege und die erste Liebe ihrer Tochter. Und allem Anschein nach wurde diese Liebe auch erwidert. Sie gähnte wieder, da sie von dem regelmäßigen Schaukeln und der Stille des frühen Morgens genauso in den Schlaf gewiegt wurde wie Lily.
Harper war einfach großartig im Umgang mit Lily. Geduldig, lustig und liebevoll. Insgeheim war er für sie Lilys Ersatzvater - obwohl er gar nicht mit Lilys Mutter liiert war, was sie sehr schade fand. Manchmal malte sie sich aus, wie es mit ihm sein würde, und dabei ging es ihr nicht um den Vater, sondern nur um den Mann. Schließlich würde jedes gesunde amerikanische Mädchen - vor allem, wenn es gerade unter akutem Sexentzug litt - angesichts eines großen, dunkelhaarigen und unverschämt gut aussehenden Mannes ins Schwärmen geraten, vor allem, wenn dieser Mann auch noch ein umwerfendes Lächeln, wunderschöne braune Augen und einen knackigen, zum Kneifen verleitenden Po besaß. Natürlich hatte sie ihn noch nie in den Po gekniffen.
Sie hatte es sich nur vorgestellt. Und intelligent war er auch noch. Er wusste alles, was es über Pflanzen zu wissen gab. Sie beobachtete ihn gern bei seiner Arbeit im Veredelungshaus des Gartencenters, konnte sich nicht satt sehen daran, wie seine Hände ein Messer hielten oder Bast verknoteten. Er brachte ihr vieles bei, und sie war ihm dankbar dafür. So dankbar, dass sie sich zurückhielt und nicht wie eine ausgehungerte Katze über ihn herfiel. Aber schließlich war ja nichts dabei, wenn sie es sich vorstellte. Sie brachte den Schaukelstuhl zum Stehen, hielt den Atem an und wartete. Lilys Rücken unter ihrer Hand hob und senkte sich rhythmisch. Gott sei Dank. Langsam stand sie auf und schlich sich leise und verstohlen zum Kinderbett, wie eine Frau, die gerade aus dem Gefängnis ausbricht. Mit schmerzenden Armen und benommen vor Müdigkeit beugte sie sich über das Bettchen und legte Lily so vorsichtig wie möglich auf die Matratze. In dem Moment, in dem sie die Decke über sie zog, zuckte Lily zusammen. Ihr Kopf schoss nach oben, und sie fing an zu weinen.
»O Lily, bitte, jetzt schlaf doch endlich.« Hayley tätschelte und streichelte ihre Tochter, obwohl sie fast nicht mehr stehen konnte. »Sch! Jetzt schlaf schon. Gönn deiner Mama doch mal eine Pause.« Das Streicheln schien zu funktionieren - solange ihre Hand auf Lilys Rücken lag, blieb der kleine Kopf unten. Daher setzte sich Hayley auf den Fußboden und steckte den Arm durch die Gitterstäbe des Bettchens. Und streichelte. Und streichelte ... Irgendwann schlief sie ein.
Der Gesang weckte sie. Ihr Arm war eingeschlafen und blieb es zunächst auch, als sie die Augen aufschlug. Im Zimmer war es kalt; die Stelle auf dem Boden, auf der sie an das Kinderbett gelehnt saß, fühlte sich wie ein Stück Eis an. In ihrem Arm krabbelten Millionen Ameisen von der Schulter bis zu den Fingerspitzen, als sie sich umdrehte und die Hand schützend auf Lilys Rücken ließ. Im Schaukelstuhl saß eine Gestalt in einem grauen Kleid und sang leise ein altmodisches Wiegenlied.
Ihre Blicke trafen sich, doch die Frau fuhr fort zu singen und zu schaukeln. Der Schock ließ Hayley jede Müdigkeit vergessen. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Was sagte man zu seinem Geist, den man seit einigen Wochen nicht gesehen hatte?, fragte sie sich. Hallo, wie gehts? Willkommen daheim? Wie sollte man in einer solchen Situation reagieren, vor allem, wenn besagter Geist einen Sprung in der Schüssel hatte? Hayley spürte die Kälte auf ihrer Haut, als sie langsam aufstand, damit sie sich zwischen den Schaukelstuhl und Lilys Bettchen stellen konnte. Nur für den Fall. Da sich ihr Arm anfühlte, als würde er gerade mit Tausenden von Nadeln gestochen werden, presste sie ihn an sich und rieb mit der Hand darüber. Merk dir jedes Detail, sagte sie zu sich selbst. Mitch wird alle Einzelheiten wissen wollen. Für einen durchgeknallten Geist wirkte sie ziemlich ruhig, dachte Hayley. Ruhig und traurig, so wie beim ersten Mal, als sie die Harper-Braut gesehen hatte. Aber sie hatte sie auch schon mit weit aufgerissenen Augen und vor Wut verzerrtem Gesicht erlebt. »Ähm, sie ist gestern geimpft worden. Und in der Nacht darauf ist sie dann immer etwas unruhig. Aber ich glaube, jetzt haben wir das Schlimmste überstanden. In
Weitere Kostenlose Bücher