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Roter Engel

Roter Engel

Titel: Roter Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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rührte sich nicht. Sie lag auf der linken Seite und hatte den Blick auf die Tür gerichtet. Ihre Augen waren halb geöffnet, sahen aber ins Leere. Hinter ihren Rücken hatte man Kissen gestopft. Die Arme hielt sie wie ein Fötus um sich geschlungen. Aus einem Beutel über dem Bett tropfte eine cremig weiße Flüssigkeit durch einen Schlauch, der in einem Nasenloch der Frau verschwand. Das Bettzeug war zwar sauber, aber in der Luft hing ein Geruch, den der Duft der Rosen nicht überdecken konnte. Es roch nach Schlaganfall: Talkum, Windeln, Urin. Ein Geruch aus dem Stadium der langsamen Involution.
    Toby griff nach der Hand der Frau. Sanft zog sie den Arm nach vorn. Der Ellbogen gab mit leichtem Widerstand nach. Es waren keine Kontrakturen festzustellen, die Physiotherapie hat also bei den passiven Bewegungsübungen Vorsicht walten lassen. Toby legte die Hand wieder nieder. Sie war fleischig. Trotz ihres komatösen Zustands war die Patientin gut genährt und mit Flüssigkeit versorgt.
    Toby konzentrierte sich auf das schlaffe Gesicht. Ob diese Augen sie wirklich ansahen? Konnte die Frau überhaupt etwas sehen, etwas verstehen?
    »Hallo, Mrs. Slotkin?« murmelte sie. »Mein Name ist Toby.«
    »Agnes kann nicht antworten«, sagte eine Stimme hinter ihr.
    »Aber ich glaube, sie hört Sie.«
    Toby drehte sich überrascht zu dem Mann um, der gerade gesprochen hatte. Er stand in der Tür – besser, er
füllte
ihren Rahmen, ein Riese von einem Mann mit einem breiten schwarzen Gesicht und einem glänzenden Kolben von Nase. Ein nettes Gesicht, dachte sie, denn er hatte freundliche Augen. Er hatte einen weißen Arztkittel an und ein Krankenblatt in der Hand.
    Lächelnd reichte er ihr die Hand. Sein Arm wurde so lang, daß das Gelenk aus dem Ärmel ragte. Gab es überhaupt Kittel, in die Männer seiner Größe paßten? fragte sie sich.
    »Dr. Robbie Brace«, sagte er. »Ich bin Mrs. Slotkins Arzt. Sind Sie mit ihr verwandt?«
    »Nein.« Toby schüttelte ihm die Hand. Ihre eigene verschwand wie in einem warmen braunen Handschuh. »Ich bin Notärztin im Springer Hospital, ein Stück stadteinwärts von hier. Toby Harper.«
    »Beruflich hier?«
    »Gewissermaßen. Ich hatte gehofft, Mrs. Slotkin könnte mir etwas über die Krankengeschichte ihres Mannes erzählen.«
    »Stimmt etwas nicht mit Mr. Slotkin?«
    »Man hat ihn letzte Nacht bei uns in die Notaufnahme eingeliefert, verwirrt und desorientiert. Aber bevor ich mit meinen Untersuchungen fertig war, ist Harry wieder aus dem Hospital verschwunden. Jetzt können wir ihn nicht finden, und ich habe keine Ahnung, was mit ihm passiert ist. Kennen Sie seine Krankengeschichte?«
    »Ich kümmere mich nur um die Pflegefälle hier drinnen. Sie sollten mit den Ärzten unten in der Ambulanz reden.«
    »Harry ist Dr. Wallenbergs Patient. Aber Wallenberg ist nicht in der Stadt. Und die Klinik gibt mir seine Unterlagen nur mit seiner Erlaubnis.«
    Robbie Brace zuckte mit den Schultern. »Das ist hier so die Regel.«
    »Kennen Sie Harry? Gibt es bei ihm ein medizinisches Problem, auf das ich achten sollte?«
    »Ich kenne Mr. Slotkin nur vom Ansehen. Ich sehe ihn nur, wenn er Agnes besuchen kommt.«
    »Also haben Sie mit Harry auch mal gesprochen.«
    »Na ja, wir haben hallo gesagt, das war alles. Ich arbeite hier erst seit einem Monat und bin noch damit beschäftigt, Gesichter und Namen zuzuordnen.«
    »Haben Sie die Berechtigung, mir Harrys Unterlagen auszuhändigen?«
    Er schüttelte den Kopf. »Das kann nur Dr. Wallenberg, und der braucht auch erst die schriftliche Genehmigung des Patienten, bevor er irgendeine Information herausrückt.«
    »Aber das könnte die Gesundheit des Patienten erheblich beeinträchtigen.«
    Er runzelte die Stirn. »Sagten Sie nicht, Harry sei aus Ihrer Notaufnahme fortgegangen?«
    »Also, ja, das ist er …«
    »Dann ist er jetzt eigentlich nicht mehr Ihr Patient, oder?«
    Toby sagte nichts mehr. Dem konnte man nicht widersprechen.
    Harry
war
aus der Notaufnahme fortgegangen. Er
war
vor ihrer Behandlung davongelaufen. Sie hatte keine dringenden Gründe, die Herausgabe seiner Unterlagen zu fordern.
    Sie sah die Frau im Bett an. »Ich denke, auch Mrs. Slotkin kann mir nichts erzählen.«
    »Ich fürchte, Agnes sagt überhaupt nichts.«
    »Was hat sie für einen Schlaganfall?«
    »Subarachnoidalblutung. Nach der Karte hier ist sie seit einem Jahr bei uns in Behandlung. Scheint in einem vegetativen Zustand zu verharren. Doch immer wieder sieht sie mich offenbar an.

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