Roter Engel
Pedale.
Angus nickte ihm zu. »Hey, Jim.«
»Hallo, Angus.«
Für eine Weile waren sie, schwitzend und schnaufend, zu sehr auf sich selbst konzentriert, als daß sie miteinander geredet hätten. Vorn auf dem Bildschirm zeigte das Video statt des griechischen Dorfes jetzt einen matschigen Weg in einem Regenwald. Angus’ Pulsfrequenz blieb stetig auf hundertdreißig pro Minute.
»Hast du noch etwas von ihm gehört?« fragte Bigelow, vom Surren seines Rads begleitet. »Von Harry?«
»Kein Wort.«
»Ich habe sie gesehen … , ich meine, die Polizei … Sie haben im Teich gesucht.« Bigelow keuchte. Gleichzeitig zu reden und in die Pedale zu treten fiel ihm schwer. Eigene Schuld, dachte Angus. Bigelow konnte kein Dessert auslassen, und außerdem kam er nur einmal in der Woche zum Fitneßtraining. Er hatte nichts übrig fürs Trainieren und auch nicht für gesundes Essen.
Mit seinen sechsundsiebzig Jahren sah er deswegen auch genauso alt aus, wie er war.
»Beim Frühstück … habe ich gehört … sie haben ihn noch nicht gefunden …« Bigelow beugte sich über den Lenker. Sein Gesicht war rot vor Anstrengung.
»Das war auch das letzte, was ich gehört habe«, sagte Angus.
»Komisch. Sieht Harry gar nicht ähnlich.«
»Überhaupt nicht.«
»Benahm sich etwas seltsam … am Wochenende. Hast du das gemerkt?«
»Was meinst du damit?«
»Hatte sein Hemd verkehrt herum an. Die Socken paßten nicht zusammen. Untypisch für Harry.«
Angus sah weiter direkt auf den Bildschirm. Jetzt waren sie im Dschungel. Oben in einer Baumkrone ringelte sich eine Boa constrictor um einen Ast.
»Und sind dir … seine Hände aufgefallen?« keuchte Bigelow.
»Was war mit denen?«
»Sie haben gezittert. Letzte Woche.«
Angus sagte nichts. Er packte die Haltestange fester und konzentrierte sich auf seine Schritte.
Lauf. Lauf. Mach die Waden stramm, sieh zu, daß sie jung und fest bleiben.
»Am komischsten«, sagte Bigelow, »ist dieser Rummel um Harry. Du kannst dir nicht vorstellen …«
»Ich stelle mir gar nichts vor, Jim. Hoffen wir, er taucht bald wieder auf.«
»Klar.« Bigelow hörte auf zu strampeln. Er blieb sitzen, rang nach Atem und starrte auf den Bildschirm, auf dem jetzt ein tropischer Regenguß auf den Dschungel niederprasselte. »Das Dumme ist nur«, sagte er ruhig, »ich glaube nicht, daß er wieder heil auftaucht. Es sind schon zwei Tage her.«
Angus schaltete das Laufband mit einem Ruck ab. Kein Cooldown mehr. Gleich weiter mit der Brust und den Armen. Er schlang das Handtuch um den Nacken und ging zum Armbeuger und -strecker. Widerwillig nahm er zur Kenntnis, daß Bigelow vom Rad stieg und ihm folgte.
Er ignorierte ihn einfach, setzte sich an das Gerät und begann mit dem Latissimus dorsi.
»Angus«, sagte Bigelow, »macht dir das denn gar keine Sorgen?«
»Was können wir schon machen, Jim? Die Polizei schaut sich ja bereits nach ihm um.«
»Nein, ich meine, erinnert dich das nicht an …« Bigelow begann zu murmeln. »An das, was mit Stan Mackie passiert ist?«
Angus unterbrach seine Übungen und ließ die Gewichte herunter. »Das ist Monate her.«
»Ja, aber es war genau das gleiche. Erinnerst du dich, wie er mit offenem Hosenschlitz herumlief? Und dann wußte er nicht mehr, wie Phil heißt. Man vergißt nicht den Namen seines besten Freundes.«
»Phil kann man leicht vergessen.«
»Ich kann es nicht glauben, wie schnoddrig du damit umgehst.
Erst verlieren wir Stan. Und jetzt Harry. Was ist, wenn …« Bigelow brach ab und sah sich im Fitneßraum um, als fürchte er, jemand könne sie belauschen. »Was, wenn da etwas Schlimmes vor sich geht? Wenn wir alle krank werden?«
»Stans Tod war Selbstmord.«
»Heißt es. Aber niemand springt ohne Grund aus dem Fenster.«
»Hast du Stan denn gut genug gekannt, um sagen zu können, daß er einen Grund hatte?«
Bigelow sah zu Boden. »Nein …«
»Na, also.« Angus ging wieder an die Gewichte.
Ziehen, loslassen. Ziehen, loslassen. Die Muskeln müssen stramm bleiben …
Bigelow seufzte. »Es bleiben Fragen. Ich habe mich nie wohl gefühlt bei der Sache. Vielleicht ist es eine Art von … Ich weiß nicht. Göttlicher Fügung. Vielleicht haben wir es so verdient.«
»Nun komm mir nicht so katholisch, Jim! Du wartest dauernd auf den Blitz, der auf dich herniederfährt. Ich bin jetzt anderthalb Jahre hier, und ich habe mich in meinem Leben noch nicht besser gefühlt.« Er streckte ein Bein aus. »Sieh dir meinen Quadrizeps an! Siehst du, wie scharf der
Weitere Kostenlose Bücher