Roter Engel
einem anderen Fall nicht klar. Ich hatte eine wirklich beschissene Nacht.«
»Was ist passiert?«
»Wir haben zwei Patienten verloren. Binnen einer Stunde. Und das macht mich ziemlich fertig. Ich wollte es nicht bei Ihnen abladen.«
Er beantwortete es mit einem kurzen Nicken, eine widerwillige Annahme ihrer Entschuldigung.
»Und wie war Ihre Nacht?« fragte sie.
»Sie hat durchgeschlafen. Dann habe ich sie vorhin in den Garten gebracht. Das scheint sie immer sehr zu beruhigen.«
»Ich hoffe, sie hat nicht den ganzen Salat abgepflückt.«
»Ich sage es Ihnen nicht gern, aber Ihr Salat ist schon vor einem Monat geschossen.«
Na gut, als Gärtnerin bin ich also auch eine Fehlbesetzung,
dachte Toby und ging durch die Küche zur Hintertür. Jedes Jahr legte sie aufs neue hoffnungsvoll ein Gemüsebeet an. Sie säte Reihen von Salat, Zucchini und grüne Bohnen und zog sie hoch, bis sie als Sämlinge aus dem Boden sprossen. Dann passierte das Unvermeidliche, sie hatte zuviel zu tun und mußte den Garten vernachlässigen. Der Salat schoß, die Bohnen hingen gelb und holzig an den Stangen. Verbittert riß sie dann alles wieder aus und schwor sich, das nächste Jahr besser für den Garten zu sorgen. Und wußte doch, daß ihr im nächsten Jahr wieder eine Zucchini-Ernte aus lauter ungenießbaren Baseballschlägern entgegenwachsen würde.
Sie ging nach draußen. Zuerst sah sie ihre Mutter gar nicht. Aus dem Garten war ein Dschungel aus Kletterpflanzen und Sommerblumen geworden, die ihr bis zum Kinn hinaufwuchsen.
Hier draußen hatte stets eine fröhliche Zufälligkeit geherrscht, als hätte sie die Beete ganz planlos und Saison für Saison ganz nach Gärtnerlaune angelegt. Das Haus hatte Toby vor acht Jahren gekauft und sich dabei vorgenommen, die widerspenstigeren Pflanzen auszureißen und unbarmherzig für eine gewisse Gartenkultur zu sorgen. Ellen war es gewesen, die ihr das wieder ausgeredet hatte, Ellen, die ihr erklärt hatte, daß – im Garten – Unordnung das Schönere war.
Jetzt stand Toby an der Hintertür und schaute in einen so dicht zugewachsenen Garten, daß sie nicht einmal den ziegelgepflasterten Weg sah. Etwas raschelte zwischen den Blumen, und ein Strohhut tauchte zwischen ihnen auf. Es war Ellen, die auf den Knien kroch.
»Mom, ich bin wieder da.«
Der Strohhut kam hoch, und darunter tauchte Ellen Harpers rundes, sonnengebräuntes Gesicht auf. Sie sah ihre Tochter und winkte. Sie schwenkte etwas in der Hand. Toby ging über den kleinen Hinterhof und kämpfte sich durch das Gestrüpp der Kletterpflanzen. Ihre Mutter stand auf. Sie hatte ein Bündel Löwenzahn ausgerupft. Das war eine dieser Ironien des Lebens, daß Ellens Krankheit sie alles mögliche hatte vergessen lassen – kochen, sich selber baden –, aber was sie nicht vergessen hatte und wahrscheinlich nie vergessen würde, war, wie man Unkraut von Blumen unterschied.
»Bryan sagt, du hast noch gar nichts gegessen«, sagte Toby.
»Ach, ich nahm an, ich hätte. Habe ich nicht?«
»Gut, ich mache uns beiden jetzt ein Frühstück. Kommst du herein und ißt mit mir?«
»Aber ich habe hier noch so viel zu tun.« Ellen sah sich seufzend zwischen den Blumenbeeten um. »Ich glaube, ich werde nie damit fertig. Siehst du das hier? Dieses schreckliche Zeug?«
Sie wedelte mit den schlaffen Pflanzen in der Hand.
»Das ist Löwenzahn.«
»Ja, und dieses Zeug wuchert und wuchert nur so. Wenn ich es nicht ausreiße, wächst es diese ganzen roten Blumen da zu. Wie heißen die noch …«
»Die roten Blumen? Ich weiß wirklich nicht, Mom.«
»Wie dem auch sei, es gibt eben nur soundso viel Platz, und da muß das Zeug eben gejätet werden. Es ist ein Kampf um mehr Platz. Ich habe so viel zu tun, und ich habe nie genug Zeit.« Sie ließ den Blick durch den Garten schweifen, die Wangen von der Sonne gerötet.
So
viel zu tun, nie genug Zeit.
Das war Ellens Mantra, eine immer wiederkehrende Floskel, die ihr erhalten blieb, während sonst ihr Gedächtnis zerfiel. Warum war diese Floskel in Ellens Gehirn so fest gespeichert geblieben? War ihr Leben als verwitwete Mutter zweier Töchter immer so sehr vom Zeitdruck bestimmt gewesen, vom Gedanken an unerledigte Aufgaben?
Ellen ging wieder auf die Knie und wühlte im Boden. Wozu, wußte Toby nicht. Vielleicht war da noch mehr von dem verhaßten Löwenzahn. Toby sah zum Himmel. Er war wolkenlos, und es war angenehm warm. Ellen war hier draußen gut untergebracht, auch ohne direkte Aufsicht. Das Gartentor war
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