Roter Engel
Plötzlich richtete die Menge ihre Aufmerksamkeit auf die Straße, wo gerade ein Wagen am Bordstein angehalten hatte. Zwei Frauen kamen aus dem Klinikgebäude geeilt und drängten sich trotzig durch die Reihen. Sie halfen einer ängstlich um sich schauenden Frau vom Beifahrersitz, nahmen sie in die Mitte und führten sie mit umgelegten Armen zum Klinikeingang.
Da traten die beiden Cops endlich in Aktion. Sie schritten ein und bahnten den drei Frauen einen Weg durch die Menge.
»So machen sie es mit den Babys da drinnen!« schrie ein Mann und warf etwas auf den Gehsteig.
Glas zersprang in Scherben. Hellrotes Blut verteilte sich auf dem Pflaster.
Die Menge fing an zu singen:
Baby killers, Baby killers, Baby killers.
Die drei Frauen folgten einem der Polizisten mit eingezogenen Köpfen und ohne sich umzusehen die Stufen zur Klinik hinauf.
Die Tür fiel hinter ihnen zu.
Molly spürte, wie jemand an ihrem Arm zog. Ein Mann drückte ihr eine Broschüre in die Hand.
»Schließ dich unserem Kampf an, Schwester«, sagte er.
Molly betrachtete den Titel der Broschüre. Ein lächelndes Kind mit strähnigen blonden Haaren.
Wir sind alle Gottes Engel,
stand darunter.
»Wir brauchen neue Soldaten«, sagte der Mann. »Nur so kann man den Satan bekämpfen. Wir heißen dich willkommen.« Er streckte ihr die Hand entgegen. Seine Finger waren knochig wie die von einem Skelett.
Molly ergriff unter Tränen die Flucht.
Der Bus brachte sie wieder zurück in ihre vertraute Gegend.
Es war fast fünf, als sie wieder die Treppen zu ihrem Zimmer hinaufstieg. Sie war so müde, daß sie sich kaum auf den Beinen halten und kaum die letzten Stufen erklimmen konnte.
Gerade hatte sie sich auf ihr Bett fallen lassen, als Romy die Tür aufstieß und hereinplatzte. »Wo bist du gewesen?«
»Spazieren.«
Er trat gegen ihr Bett. »Du verdienst dir doch nicht ein bißchen nebenbei, oder? Ich behalte dich im Auge, Mädchen. Bleibe dir auf der Spur.«
»Laß mich in Ruhe. Ich will schlafen.«
»Du treibst dich auf eigene Faust herum? Tust du das?«
»
Raus
aus meinem Zimmer.« Sie schob ihn mit dem Fuß von ihrem Bett weg.
Das war ein schwerer Fehler. Romy packte ihr Handgelenk und drehte es mit solcher Wut herum, daß die Knochen knackten.
»Hör auf!« schrie sie. »Du brichst mir den Arm …«
»Und du vergißt ganz, wer du bist, Molly Wolly. Und wer ich bin. Gefällt mir gar nicht, wenn du abhaust und mir nicht sagst, wohin.«
»Laß mich. Komm, Romy. Hör auf, mir weh zu tun.«
Er grunzte mißmutig und ließ sie los. Dann ging er zu dem alten Rattanregal, wo ihre Handtasche lag. Er öffnete sie und schüttelte den Inhalt auf den Fußboden. Aus der Geldbörse zog er elf Dollar – ihr ganzes Geld. Wenn sie nebenbei Dummheiten gemacht hatte, dann hatte sie bestimmt kein Geld dafür gekriegt.
Als er die Scheine in seine Tasche stopfte, fiel sein Blick plötzlich auf die Broschüre mit dem kleinen blonden Kind auf der Titelseite.
Wir sind alle Gottes Engel.
Er hob das Heft auf und lachte. »Was soll dieser Engel-Scheiß?«
»Nichts von Bedeutung.«
»Woher hast du das?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Irgendein Typ hat es mir gegeben.«
»Wer?«
»Ich weiß nicht, wie er heißt. Es war drüben vor der Klinik für Geplante Elternschaft. Da stand ein ganzer Haufen verrückter Leute auf der Straße, die schrien und schubsten die Leute herum.«
»Und was hattest
du
da zu suchen?«
»Nichts. Gar nichts.«
Er trat wieder an ihr Bett und faßte sie am Kinn. Leise sagte er:
»Du hast da doch nicht etwas gemacht, ohne es mir zu sagen?«
»Was meinst du damit?«
»Niemand rührt dich an ohne meine Erlaubnis. Verstanden?«
Seine Finger bohrten sich in ihren Hals, und auf einmal bekam sie Angst. Romy sprach ganz leise, und wenn er so ruhig wurde, wurde er immer gemein. Sie hatte die Blutergüsse gesehen, die er anderen Mädchen im Gesicht zugefügt hatte. Die blutigen Lücken, wo einmal Zähne gewesen waren. »Dachte, das wäre klar zwischen uns, schon seit langem.«
Der Druck seiner Finger trieb ihr Tränen in die Augen. »Ja«, flüsterte sie. »Ja, ich …« Sie schloß die Augen und wartete auf den Schlag. »Romy, ich habe Mist gebaut. Ich glaube, ich bin schwanger.«
Zu ihrer Überraschung blieben die Schläge aus. Im Gegenteil, er ließ sie los und gab so etwas wie ein glucksendes Lachen von sich. Sie traute sich nicht, ihn anzusehen, sondern hielt den Kopf demütig gebeugt.
»Ich weiß nicht, wie es passiert ist«, sagte
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