Roter Herbst - Kriminalroman
solche Dinge oft hier?«, wollte er dann noch wissen.
Sie lächelte. »Nein, nicht sehr oft. Die Menschen hier sind eher friedlich. Der im Baum kommt sicher aus einer ganz anderen Welt.«
Einen Moment lang fragte sich Bichlmaier, wie sie da so sicher sein konnte.
»Vielleicht eine Abrechnung im Rauschgiftgeschäft. Aber warum nur hat man ihm die Hände und die Arme abgetrennt?«
»Vielleicht, um eine Identifizierung zu erschweren. Oder die Täter waren besonders grausam, eventuell ein Rachemord …«
Bichlmaier dachte nach. »Ein Ritualmord vielleicht … Sie sollten auf jeden Fall Hunde anfordern.«
»Warum?«
»Um nach den Händen zu suchen.«
Sie lachte. »Sind Sie Polizist? Sie reden wie einer.«
Bichlmaier nickte. Er hatte das Gefühl, dass ihre Freundlichkeit nicht gespielt war. Sie wirkte offen, fast mütterlich. Es gab also keinen Grund, ihr etwas zu verheimlichen.
»Ich war Polizist«, sagte er. »In Regensburg, bei der Mordkommission. Aber das ist schon eine ganze Weile her.«
»Und jetzt?«, fragte sie.
»Zumindest können wir Selbsttötung ausschließen«, meinte der Mann von der Spurensicherung. Er war derjenige, der den Trupp der vier weiß gekleideten Gestalten angeführt hatte. Obwohl sie sich Mühe gegeben hatten, den Wasserlöchern auszuweichen, zeigten ihre Monturen feuchte braune Wasserspritzer, die fast bis zu den Knien reichten. Auch Bichlmaiers Schuhe und Hose waren verdreckt, und er spürte, wie die Feuchtigkeit in ihn hineinkroch.
Einer der anderen Kriminaltechniker hatte Fotos von der Leiche gemacht. Aus den verschiedensten Blickwinkeln. Beim Versuch, auf den kahlen Baum zu steigen, um die Leiche aus allernächster Nähe zu fotografieren, wäre er beinahe zu Boden gefallen, weil einer der dürren Äste abgebrochen war.
Wie hatte es der Mörder geschafft, den massigen Körper auf den Baum zu hieven? Warum hatte er ihn nicht einfach davor liegen lassen?, wunderte sich Bichlmaier. Dazu kam, dass etwas das Bild störte. Etwas, das ganz offensichtlich war. Es waren keinerlei Spuren im weichen Boden zu sehen. Weder Reifenspuren noch abgebrochene Zweige. Auch war das Gras vor dem Baum nicht zertreten. Bichlmaier spürte, wie ihn Neugier erfasste, vielleicht auch der alte Jagdtrieb. Es schien, als sei der Boden gesäubert und geglättet worden. Irgendwie sah alles nach professioneller Arbeit aus. Vielleicht jemand aus dem Milieu.
»Der steckt richtig fest«, rief der Techniker, dem es mittlerweile gelungen war, auf den Baum zu klettern. »Der Baum ist hohl. Es wird ein Problem, ihn da herauszuholen. Seine Beine haben sich verkantet.«
Bichlmaier konnte sehen, wie er an der Leiche zerrte, die sich aber kaum bewegen ließ.
»Warum streckt er seine Arme in die Höhe?«, fragte Amanda Wouters. Sie hatte den Kopf in den Nacken gelegt und starrte angestrengt nach oben. Zusammen mit Bichlmaier war sie näher getreten, allerdings nur bis zur Absperrung, die die Techniker gezogen hatten.
»Der streckt sie nicht hoch. Jemand hat sie mit Draht festgebunden«, rief der Mann vom Baum herunter. »Da konnte er gar nicht anders.«
»Hat er denn noch gelebt, als er festgebunden wurde?«
»Das ist von hier aus nicht zu erkennen. Er hat auf jeden Fall geblutet, wie ein Schwein. Hier sind jede Menge Blutspuren.«
»Ich frage mich, wie er getötet wurde«, murmelte Bichlmaier. Vielleicht hatte ihn der Mörder tatsächlich einfach nur ausbluten lassen, ihm zuerst die Hände abgehackt und ihn dann in den hohlen Baum gesteckt. Es würgte ihn, als er sich die Qualen des Opfers vorstellte. Ein richtiges Schlachtfest musste das gewesen sein, dachte er.
Amanda Wouters beobachtete ihn von der Seite. Was wohl in ihr vorging?
»Wir werden heute noch den Baum fällen lassen«, sagte sie plötzlich, ohne sich direkt an ihn zu wenden. »Vielleicht sind seine Hände ja auf irgendeine Weise in den Stamm geraten.«
Bichlmaier leistete ihr im Stillen Abbitte. Also doch, dachte er. Er hatte sich getäuscht. Wie es schien, war der Kommissarin an schneller, effizienter Arbeit gelegen.
»Und die Leiche?«, fragte er.
»Die bergen wir, wenn der Baum am Boden liegt … Der Förster müsste eigentlich gleich kommen. Anschließend schicken wir sie in die Gerichtsmedizin.«
Als der Förster und sein Helfer, ein athletischer junger Mann mit gegelter Kurzhaarfrisur, nach etwa 20 Minuten endlich eingetroffen waren, war das Tageslicht fast völlig geschwunden. Ein seltsam diffuses Dämmerlicht hatte sich eingestellt
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