Roter Regen
einer Tochter
gekommen, von der er zwanzig Jahre lang nichts gewusst hatte. Und er empfand
Swintha als ein Geschenk des Schicksals, auch wenn er noch nicht wusste, wie er
seine Vaterrolle zu spielen hatte. Aber ein weiteres Überraschungskind,
ausgerechnet mit Britta? Nein, das mochte er sich nicht ausmalen.
»Wie alt ist Sandra?«, hörte sich Killian interessiert fragen.
»Am 11.09. isch sie achtzehn worde. Des Datum kann ma sich ja
mittlerweile gut merke. Sternzeichen Jungfrau, wie ich – obwohl ich im Dezember
Geburtstag hab.« Erneut donnerte ein derbes Lachen aus Brittas Kehle und legte
die Lücken frei, die die einstigen Backenzähne hinterlassen hatten.
Killian war erleichtert. Und im Überschwang sprach es aus ihm: »Wenn
sie will, kann sie mich anrufen, und wir vereinbaren einen Termin.«
Britta beugte sich über den Tisch, sodass ihr großzügiges Dekolleté
Killians gesamte Aufmerksamkeit erheischte, und drückte ihm einen Kuss auf die
Wange. »Du bisch ein Schatz«, hauchte sie und schwang davon, um sich anderen
Gästen zu widmen.
Als Killian wieder zu Belledin hinüberblickte, sah er dessen Platz
verwaist. Er schaute sich im Wirtshaus um und entdeckte den Kommissar bei der
Frauengruppe sitzend. Er hatte einen Notizblock gezückt und schrieb gerade
etwas hinein. Plötzlich sprang eine der Frauen auf, griff sich ihre Jacke,
rauschte an Killian vorbei und verließ eilig das Wirtshaus. Belledin sprang
ebenfalls auf und folgte ihr hastig. Im Vorbeigehen schnappte er sich seine
Jacke, warf Killian ein »Man sieht sich« zu, und schon war er verschwunden.
Da Belledins Einladung jetzt wohl hinfällig war, wollte Killian die
Rechnung ordern. Er hob den Arm und gab Britta ein Zeichen. Sie war gerade mit
der Abrechnung der Damengruppe beschäftigt, bemerkte ihn aber sofort und
deutete auch Killians Absicht richtig. Lachend schüttelte sie den Kopf und rief
über die Tische hinweg:
»Geht aufs Haus.« Dann winkte sie ihm herzlich zu und widmete sich
wieder den Damen.
Killian warf sich seine Kutte über und war beinahe schon zur Tür
hinaus, als sein Blick auf die Kladde mit den Kopien fiel, die sich Belledin in
Hartmanns Praxis ausgedruckt hatte. Killian nahm sie an sich und verließ das
Gasthaus.
* * *
Bärbel hockte am runden Küchentisch und starrte fassungslos auf die aufgeschlagene
Zeitung. »Heilpraktiker ermordet! Polizei tappt im Dunkeln.« Zum fünften Mal
schon flogen ihre Augen über den Text; endlich schob sie die Zeitung zur
Tischmitte und sah aus dem Fenster auf die Gleise. Ein Zug fuhr gerade in
Richtung Freiburg ab. Bärbel starrte ihm blicklos hinterher. Die Schienen vor
ihren Augen verschwammen und wuchsen zum Lavendelfeld. Gelächter ertönte
zwischen den langen Halmen mit den violetten Blütenrispen, zwei nackte Körper
liebten sich im Summen der Bienen und dem Flügelschlag der Schmetterlinge.
»Kitsch!«, schrie Bärbel und riss sich aus der Erinnerung. Sie ging
zum Telefon, wählte eine eingespeicherte Nummer und wartete. Am anderen Ende
setzte sich ein Anrufbeantworter in Gang: »Richtige Nummer zum falschen
Zeitpunkt. Hier ist der Anschluss von Christa Faller. Leider bin ich im Moment
nicht erreichbar –« Bärbel brach den Anruf ab.
Warum hatte Christa nichts gesagt? Hatte sie es nicht gewusst? Die
Polizei musste sie doch als Erste benachrichtigt haben? Immerhin war Christa
seine Assistentin. Vielleicht sogar mehr. Christa musste es gewusst haben. Aber
sie hatte es verschwiegen und sich so verhalten, als ob nichts geschehen wäre.
Warum?
Bärbel fühlte sich elend. Erst jetzt merkte sie, dass sie sich doch
ernsthafter in Thomas Hartmann verliebt hatte. Die große Bahnhofswohnung kam
ihr mit einem Mal noch riesiger vor, Bärbel fühlte sich allein wie nie zuvor.
Sie überlegte kurz, wen sie anrufen konnte. Aber weder einem ihrer
Lehrerkollegen noch jemandem von den Grünen wollte sie sich jetzt anvertrauen.
Und die anderen aus dem Kurs ging es nichts an, dass sie etwas mit Thomas
gehabt hatte.
Sie wählte eine Nummer, die sie sonst nur anrief, wenn es um die
gemeinsame Tochter Swintha ging. Ansonsten vermied sie es, Killian zu sprechen.
Noch immer war er ihr zu nah.
* * *
Killian hatte Glück. Das Freibad hatte zwar schon seit Wochen wegen
des verregneten Sommers geschlossen, aber Udo, ein Helfer des Bademeisters, den
Killian noch aus gemeinsamen DLRG -Zeiten
kannte, nutzte die ersten Sonnenstrahlen nach sieben Wochen grauen Schleiers,
um die letzten Liegen vom
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