Roter Zar
auszuwechseln.
Dennoch zögerte er. Er schloss die Augen und atmete langsam ein und aus.
»Was ist los?«, fragte Alexej.
»Sie müssen das Seil anheben, damit es nicht an der Kante scheuert und ich mich festhalten kann, wenn ich über den Rand steige. Bin ich erst mal unten, spielt es keine Rolle mehr.«
Alexej ergriff das Seil. »So?«, fragte er.
»Höher.«
Alexej hielt mit beiden Händen das braune Hanfseil umfasst und kam langsam näher.
»Noch näher heran«, sagte Pekkala, »bis ich die Füße an der Schachtmauer habe. Dann ist es kein Problem mehr.«
Sie waren nur noch eine Armlänge voneinander entfernt, ihre Hände berührten sich fast.
Pekkala sah Alexej in die Augen. »Noch ein Stück«, sagte er.
Alexej lächelte. Sein Gesicht war gerötet von der Anstrengung. »Das werde ich Ihnen nie vergessen«, sagte er.
Pekkala wollte bereits den Fuß nach unten an die Wand setzen, als ihm eine gezackte weiße Narbe auf Alexejs Stirn auffiel. Verdutzt starrte er ihn an. Eine Wunde wie diese hätte ein Bluter niemals überlebt. Und dann, als würde sich ein geisterhaftes Bild über Alexejs Gesichtszüge schieben, sah er plötzlich eine ganz andere Person vor sich. Er sah sich selbst wieder in Petrograd, vor vielen Jahren, an einem kalten Tag auf einer Brücke über der Newa. Vor ihm stand Grodek, das Gesicht starr vor Angst, während er mit sich haderte, ob er in den Fluss springen sollte. Und dann hatte er versucht, sich an Pekkala vorbeizudrängen, und Pekkala hatte mit dem Griff seines Webley zugeschlagen. Grodek war im Schneematsch zu Boden gegangen, an seiner Stirn eine klaffende Wunde, die er sich später während des Prozesses nicht verbinden lassen wollte – der dunkelrote Tausendfüßler, der sich zwischen den Haaren verkriechen wollte. Die Narbe war verblasst, sie war kaum noch zu erkennen und erst durch die körperliche Anstrengung wieder sichtbar geworden.
»Grodek«, flüsterte Pekkala.
Grodek lächelte. »Zu spät, Pekkala. Sie hätten auf Ihre Freunde hören sollen. Aber Sie wollten ja lieber an Ihre Wunschvorstellungen glauben.«
»Was haben Sie mit ihm gemacht?«, schrie Pekkala. »Was haben Sie mit Alexej gemacht?«
»Das Gleiche, was ich auch mit den anderen gemacht habe«, erwiderte Grodek. Dann ließ er das Seil los.
Das Hanfseil gab schlagartig nach und stoppte ebenso abrupt – es war immer noch an der Stoßstange befestigt. Fast wurde es Pekkala dabei aus der Hand gerissen. Er ruderte mit einem Arm und versuchte das Gleichgewicht zu halten, aber er lehnte bereits zu weit über dem Schacht, und so fiel er hintenüber und stürzte in die Tiefe. Das Seil rauschte ihm durch die Hände, strampelnd rutschte er nach unten, bis er mit dem Fuß auf einen vorstehenden Felsen traf und mit den aufgerissenen Händen fester das Seil packen konnte. Mit einem Ruck kam er zum Halt, er schwang nur noch vor und zurück, krachte gegen den Felsen und rang nach Atem. Vorsichtig beugte er das Knie, wollte sicheren Halt finden, und als er glaubte, er hätte ihn, löste sich sein Schuh. Sein ganzes Gewicht zerrte an den Schultern, er schrie vor Schmerzen auf. Seine Hände fühlten sich an, als würden sie in Flammen stehen, und diesmal ließ er los. Strampelnd stürzte er in die Dunkelheit, dann schlug er hart am Boden auf, und für einen Moment blieb ihm die Luft weg. Er drehte sich auf Hände und Knie und krallte sich in die Erde, während er röchelnd nach Atem rang. Er spürte, dass er kurz davor war, bewusstlos zu werden, er legte die Stirn auf den Boden und kauerte sich zusammen. Und plötzlich öffneten sich die Lungen, und er atmete die nach Moder und Verwesung riechende Luft ein.
Oben in der Schachtöffnung erschien Grodeks Gesicht. »Sind Sie noch da, Pekkala?«
Pekkala stöhnte. Ein weiterer Atemzug.
»Pekkala!«
»Wo ist Alexej?«, schrie Pekkala.
»Schon lange tot«, rief Grodek. »Keine Sorge, Pekkala. Sie hätten nichts für ihn tun können. Er ist in der gleichen Nacht wie seine Familie gestorben. Ich habe ihn am Leben gelassen, falls ich eine Geisel brauchte. Als ich die Leichen in den Schacht geworfen habe, ist er aus dem Laster gestiegen und wollte fliehen. Ich habe ihn gewarnt. Wenn er nicht stehen bleibt, würde ich schießen. Aber er ist einfach weitergerannt. Also musste ich schießen. Er liegt am Rand der Lichtung begraben. Ich hatte keine andere Wahl.«
»Keine andere Wahl?« schrie Pekkala. »Keiner von ihnen hatte es verdient, ermordet zu werden.«
»Maria Balka
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