Roter Zar
erfahren, dass der Zarewitsch im Haus ist«, sagte Pekkala, »noch nicht einmal Ihre Polizisten.« Sollte sich herumsprechen, dass Alexej dort untergebracht war, würde das Ipatjew-Haus vermutlich gestürmt werden. Und auch jene, die es nur gut mit ihm meinten, wären eine Gefahr für ihn.
Pekkala musste an die Katastrophe auf dem Chodynka-Feld in Moskau denken. Am Tag der Krönung des letzten Zaren hatte sich dort eine große Menschenmenge versammelt. Bei der Ausgabe der Geschenke kam es zu einer Massenpanik, bei der über tausend Menschen starben. Unter den gegebenen Umständen, vor allem, wenn mit einem Sprengstoffattentäter wie Grodek zu rechnen war, konnte alles noch viel schlimmer kommen.
Buligin war ein glatzköpfiger Mann mit ausdrucksloser Miene und kleinem Mund, den er kaum bewegte, wenn er sprach. Anton war immer noch bewusstlos, als Buligin ihn auf einen Behandlungstisch legte und ihm mit einer Lampe in die Augen leuchtete. »Er hat eine Gehirnerschütterung, aber ich kann nichts Lebensbedrohliches feststellen. Lassen Sie ihn zur Beobachtung hier. In ein paar Stunden müsste er wieder zu Bewusstsein kommen. Sollte sich sein Zustand verschlechtern, gebe ich Ihnen sofort Bescheid.«
Auf dem Rückweg zum Ipatjew-Haus setzte Pekkala Kropotkin an der Polizeidienststelle ab.
»Ihr Bruder hat in der Vergangenheit eine Menge Prügel eingesteckt«, sagte Kropotkin. »Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Ein Schlag mehr oder weniger wird ihn nicht umbringen. Ich werde nach diesem Grodek Ausschau halten. Und wenn ich was für Sie tun kann, sagen Sie es mir.«
Im Ipatjew-Haus traf Pekkala Kirow in der Küche an, vor sich auf dem Tisch hatte er das
Kalevala
aufgeschlagen.
»Wie geht es Ihrem Bruder?«, fragte Kirow.
»Er wird es überleben«, erwiderte Pekkala. »Wo ist Alexej?«
Kirow deutete zur Decke. »Oben. Sitzt nur da. Er ist nicht sonderlich gesprächig.«
»Seit wann können Sie Finnisch?«, fragte Pekkala.
»Ich schau mir die Illustrationen an«, erwiderte Kirow.
»Aus Moskau sind Soldaten angefordert«, sagte Pekkala. »Ich werde Alexej Bescheid geben.«
»Sie brauchen eine neue Ausgabe von diesem Buch«, rief Kirow Pekkala hinterher, als dieser schon halb aus dem Zimmer war.
Pekkala blieb stehen. »Was gefällt Ihnen an dem Buch nicht?«
»Es ist voller Löcher.«
Kopfschüttelnd ging Pekkala weiter.
Erst auf der Treppe stutzte er, kehrte um und rannte in die Küche zurück. »Was soll das heißen? Es ist voller Löcher?«
Kirow hielt eine Seite gegen das Licht. Die gesamte Seite war mit winzigen Löchern überzogen. »Sehen Sie.«
Zitternd streckte Pekkala die Hand aus. »Geben Sie her.«
Kirow klappte das Buch zu und reichte es ihm. »Ich tue mir zwar schwer mit der lateinischen Schrift, aber ich glaube, Ihre Sprache hat zu viele Vokale«, sagte er.
Pekkala nahm die Laterne vom Küchenregal und lief in den Keller. Dort, in der Dunkelheit, ließ er sich auf der untersten Treppenstufe nieder, zündete die Lampe an und stellte sie neben sich.
Er erinnerte sich, was die Nonne ihm erzählt hatte. Der Zar hatte Nachrichten an den Wachen vorbeigeschmuggelt, indem er mit einer Nadel einzelne Buchstaben markiert hatte. Und er musste daran denken, wie ihm damals der Zar das Buch zurückgegeben hatte – er hatte auf die Worte des Zaren nichts gegeben, aber jetzt sah er die winzigen Löcher vor sich. Er nahm seinen Notizblock heraus und begann die Wörter zusammenzustellen.
Es dauerte nur wenige Minuten, um die Nachricht zu entziffern. Mit dem Buch und der Laterne rannte er wieder hinauf, eilte durch den Flur und hinauf ins obere Geschoss zu Alexej.
Dieser saß auf einem Stuhl am Fenster in einem sonst völlig leeren Zimmer.
»Alexej«, sagte Pekkala und rang nach Atem.
Alexej drehte sich um. In der Hand hielt er einen russischen Armeerevolver.
Pekkala zuckte zusammen. »Wo haben Sie den her?«, fragte er.
»Glauben Sie, ich laufe unbewaffnet durch die Gegend?«
»Bitte legen Sie ihn weg«, sagte Pekkala.
»Scheint, ich habe keine andere Wahl mehr.«
Trug sich der Zarewitsch mit Selbstmordgedanken? Daran musste Pekkala unweigerlich denken, als er Alexej so vor sich sah.
»Ich weiß, wo er ist«, sagte Pekkala.
»Wo was ist?«
»Der Schatz. Sie hatten recht. Ihr Vater hat es mir gesagt.«
Alexej kniff die Augen zusammen. »Sie meinen, Sie haben mich angelogen?«
»Nein!«, rief Pekkala. »Er hat mir in diesem Buch eine Botschaft hinterlassen. Die Nachricht ist versteckt. Das
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