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Roth, Philip

Titel: Roth, Philip Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nemesis
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bei«, als wäre sie die Unerfahrenere. Sie lagen stundenlang auf dem Bett - ihrem Bett, dachte er, dem Bett mit den vier geschnitzten Pfosten, dem gefältelten Behang und dem Baldachin mit Blumenmuster, in dem sie seit ihrer Kindheit schlief -, und sie sagte ihm mit leiser, vertraulicher Stimme, als wären außer ihnen noch andere im Haus, was für ein unglaubliches Glück sie habe, nicht nur ihre wunderbare Familie, sondern auch ihn lieben zu dürfen. Dann erzählte er ihr von seiner Kindheit, mehr als je zuvor, und bei ihr fiel es ihm leichter, sich auszudrücken, als bei jedem anderen Mädchen, bei jedem anderen Menschen vor ihr. Er enthüllte ihr all das, was er sonst für sich behielt, alles, was ihn glücklich oder traurig machte. »Ich bin der Sohn eines Diebes«, gestand er und stellte fest, dass er diese Worte ohne eine Spur von Scham aussprechen konnte. »Er war im Gefängnis, weil er Geld gestohlen hat. Er ist vorbestraft. Ich habe ihn nie gesehen. Ich weiß nicht, wo er lebt, ob er überhaupt lebt. Wenn er mich großgezogen hätte - wer weiß, ob ich nicht ebenfalls ein Dieb geworden wäre? Allein, ohne meine Großeltern, in einem Viertel wie dem unseren, wäre es wohl ziemlich schwer gewesen, nicht auf die schiefe Bahn zu geraten.«
    Sie lagen einander zugewandt auf dem Himmelbett und erzählten Geschichten, bis es dämmerte, bis es dunkel war, bis beide praktisch alles gesagt und sich einander so vollkommen offenbart hatten, wie sie nur konnten. Und dann, als wäre er noch nicht verliebt genug, flüsterte Marcia ihm einen Satz ins Ohr, den sie gerade gelernt hatte: »Das ist doch die einzige Art, miteinander zu sprechen, stimmt's?«
    »Du«, flüsterte Marcia, als er sie ausgezogen hatte. »Jetzt du.«
    Rasch zog er seine Kleider aus und legte sie zu ihren.
    »Lass mich dich ansehen. Ach, Gott sei Dank!«, sagte sie und brach in Tränen aus. Er nahm sie rasch in seine Arme, doch das half nicht. Sie schluchzte haltlos.
    »Was ist?«, fragte er. »Was ist los?«
    »Ich dachte, du würdest sterben!«, rief sie. »Ich dachte, du würdest gelähmt sein und sterben! Ich hatte solche Angst, dass ich nicht schlafen konnte. Sooft es ging, bin ich hierher gefahren und habe gebetet, dass du gesund bleibst. Ich habe noch nie im Leben so inbrünstig für jemanden gebetet. >Bitte beschütz Bucky!< Ich weine, weil ich so glücklich bin! Du bist hier, du bist nicht krank geworden! Ach, Bucky, halt mich, halt mich ganz fest! Du bist in Sicherheit!«
     
    Als sie sich wieder anzogen, um zurück zum Camp zu fahren, sagte er wider besseres Wissen etwas, das er lieber hätte für sich behalten sollen. Er hätte berücksichtigen sollen, wie sehr sie sich gesorgt hatte und wie erleichtert sie jetzt war, er hätte die Worte, die sie gebraucht hatte, sogleich vergessen sollen. Er hätte keine Bemerkung darüber machen sollen, dass sie zu einem Gott gebetet hatte, den er ablehnte. Er wusste, es war nicht vernünftig, diesen wichtigen Tag damit zu beschließen, dass er auf ein so heikles Thema zurückkam, besonders da es das erste Mal war, dass er sie so hatte sprechen hören, und es vielleicht auch das letzte Mal bleiben würde. Es war ein Thema, das viel zu ernst für diesen Augenblick und nun, da er hier war, auch unwichtig war. Doch er hatte in Newark zuviel durchgemacht, um es nicht auszusprechen - und Newark und die Seuche lagen erst zwölf Stunden hinter ihm.
    »Glaubst du wirklich, dass Gott deine Gebete erhört hat?«, fragte er sie.
    »Ich kann es eigentlich nicht wissen. Aber du bist hier, nicht? Du bist gesund, oder?«
    »Das beweist gar nichts«, sagte er. »Warum hat Gott nicht die Gebete von Alan Michaels' Eltern erhört? Sie müssen auch gebetet haben. Herbie Steinmarks Eltern müssen gebetet haben. Es sind gute Menschen. Gute Juden. Warum hat Gott nicht eingegriffen und ihre Jungen gerettet?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte Marcia hilflos.
    »Ich auch nicht. Ich weiß nicht, wieso Gott die Kinderlähmung überhaupt erschaffen hat. Was wollte Er damit beweisen? Dass wir auf der Erde Menschen brauchen, die verkrüppelt sind?«
    »Gott hat die Kinderlähmung nicht erschaffen«, sagte sie.
    »Du glaubst, er hat es nicht getan?«
    »Ja«, sagte sie scharf. »Du nicht?«
    »Aber hat Gott nicht alles erschaffen?«
    »Das ist nicht dasselbe.«
    »Warum nicht?«
    »Warum streitest du dich mit mir, Bucky? Warum streiten wir überhaupt? Ich habe nur gesagt, dass ich zu Gott gebetet habe, weil ich so große Angst um dich

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