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Roth, Philip

Titel: Roth, Philip Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nemesis
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dessen nach nur einem einzigen Tag zu berauben. Selbst der Anblick der durchnässten Dielen am Eingang der Hütte, wo der Wind die Regentropfen über die Veranda und durch die Fliegentür gepeitscht hatte, selbst diese harmlosen Spuren des nächtlichen Gewitters bestärkten ihn irgendwie in seinem Entschluss zu bleiben. Unter einem Himmel, den der Wolkenbruch so blankgeputzt hatte, dass er glatt wie eine Eierschale wirkte, flogen Vögel hin und her, und wie hätte er sich, inmitten dieser auf geregten Jungen, anders entscheiden können? Er war kein Arzt. Er war kein Krankenpfleger. Er konnte nicht zu einer Tragödie zurückkehren, deren Verlauf er nicht ändern konnte.
    Vergiss Gott, sagte er sich. Seit wann gehört Gott zu deinen Aufgaben? Und dann tat er, was zu seinen Aufgaben gehörte, er ging mit den Jungen zum Frühstück und sog dabei die von allem Schmutz gereinigte Bergluft ein. Als sie über den grasbewachsenen Hang stapften, schien der unter ihren schmatzenden Schritten aufsteigende feuchte, würzige und für ihn ganz neue Geruch der nassen Erde wie eine Bestätigung, dass er mit dem Leben im Reinen war. Er hatte mit seinen Großeltern stets in einer Stadtwohnung gelebt. Er hatte nie zuvor die Wärme und Frische eines ländlichen Julimorgens auf der Haut gespürt, nie die Freude empfunden, die dieser weckte. Es war so erfrischend, den Tag in dieser offenen Weite zu verbringen, es war so betörend, Marcia in der Finsternis einer unbewohnten Insel zu entkleiden, weit entfernt von allen anderen, es war so belebend, bei Blitz und Donner einzuschlafen und zu einem Tag zu erwachen, der aussah wie der erste, sonnenbeschienene Tag der Menschheit. Ich bin hier, dachte er, ich bin glücklich - und das stimmte. Selbst das schmatzende Geräusch seiner Schritte auf dem weichen, nassen Gras munterte ihn auf. Es ist alles hier! Frieden! Liebe! Gesundheit! Schönheit! Kinder! Arbeit! Was blieb ihm anderes übrig als zu bleiben? Ja, alles, was er sah, roch und hörte, erschien ihm wie ein Vorgeschmack seines zukünftigen Glücks.
    Später am Tag kam es zu einem ungewöhnlichen Ereignis, wie es in der Geschichte des Lagers noch nie stattgefunden hatte. Ein riesiger Schmetterlingsschwarm senkte sich über Camp Indian Hill. Etwa eine Stunde lang flatterten Schmetterlinge über die Spielfelder, saßen dicht an dicht auf den oberen Kanten der Tennisnetze und stoben von den Gänsedisteln auf, die am Rand des Geländes wuchsen. Waren sie von Gewitterböen hierher verweht worden? Waren sie auf ihrem Zug nach Süden vom Weg abgekommen? Aber warum hätten sie so früh im Sommer nach Süden ziehen sollen? Niemand wusste es, nicht mal der für Naturkunde zuständige Betreuer. Die Schmetterlinge erschienen massenweise, als wollten sie jeden Grashalm, jeden Busch und Baum, jede Ranke, jeden Farnwedel, jede Blüte untersuchen, bevor sie sich wieder sammelten und den Zug zu ihrem unbekannten Ziel fortsetzten.
    Bucky wärmte sich auf dem Steg in der Sonne auf und beobachtete die sonnenbeschienenen Gesichter im Wasser unter ihm, als einer der Schmetterlinge auf seiner nackten Schulter landete und an seiner Haut zu saugen begann. Es war wie ein Wunder! Das Tier nahm die Mineralien in seinem Schweiß auf! Phantastisch! Bucky blieb reglos stehen und betrachtete den Schmetterling aus dem Augenwinkel, bis dieser schließlich weiterflog und verschwand. Als er den Jungen in der Hütte später davon erzählte, sagte er, der Schmetterling habe ausgesehen, als wäre er von Indianern entworfen und bemalt worden: Die geäderten Flügel seien schwarz und orangerot gemustert und mit winzigen weißen Flecken übersät gewesen. Er sagte ihnen nicht, wie verwundert er gewesen war, dass dieser herrliche Schmetterling sich auf seiner Schulter niedergelassen hatte, und dass er sich gestattete, halb daran zu glauben, dass diese Tatsache ein gutes Omen war und von kommenden Tagen der Fülle kündete.
    Niemand hatte Angst vor den Schmetterlingen, die das Lager bedeckten und als farbige Wolke dahinflogen. Vielmehr lächelten alle über das lautlose, lebhafte Flirren; die Kinder wie die Betreuer waren entzückt, von der schwerelosen Zartheit dieser zahllosen bunten Flügel umflattert zu werden. Einige kamen aus den Hütten gerannt und schwenkten Schmetterlingsnetze, die sie im Werkunterricht hergestellt hatten, und die Jüngsten rannten den taumelnden Schmetterlingen nach und versuchten, sie mit bloßen Händen zu fangen. Alle freuten sich, denn alle wussten, dass

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