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Roth, Philip

Titel: Roth, Philip Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nemesis
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ging er nicht zurück zu seiner Hütte, sondern zum See ging. Trotz der nächtlichen Kühle setzte sich auf den Sprungturm, starrte weit über eine Stunde lang ins Dunkel und dachte an die verherrlichenden Beinamen, die man Jake auf der Sportseite der Collegezeitung gegeben hatte: »Der Mann aus Stahl«, »Big Jake«, »Ein Mann wie ein Berg« ... Dass Jake tot war, erschien ihm so unvorstellbar wie sein eigener Tod, doch das änderte nichts daran, dass ihm die Tränen über die Wangen liefen.
    Gegen Mitternacht stieg er hinunter, doch anstatt sich den Hügel hinauf zur Hütte zu wenden, ging er auf dem Steg auf und ab, bis über dem See das erste Morgenlicht stand, und er dachte daran, dass sein Großvater, ein anderer geliebter Toter, in diesem Licht ein Glas heißen Tee - im Winter mit einem Schuss Schnaps - getrunken hatte, bevor er sich auf den Weg zum Markt in der Mulberry Street gemacht hatte, um frische Ware für sein Geschäft zu kaufen. In den Schulferien hatte Bucky ihn manchmal begleitet.
    Er rang noch immer um Fassung, damit er in die Hütte zurückkehren konnte, bevor einer der Jungen erwachte, als die Vögel im Wald zu singen begannen. Tagesanbruch in Camp Indian Hill. Bald würde man aus den Hütten das Murmeln junger Stimmen hören, und dann würde das ausgelassene Geschrei beginnen.
     
    Einmal pro Woche wurde, für Mädchen und Jungen getrennt, eine Indianernacht veranstaltet. Um acht Uhr fanden sich alle Jungen am Lagerfeuer ein, das sich auf einer Lichtung hoch über dem See befand und einen Durchmesser von etwa zwanzig Metern hatte. In seinem Mittelpunkt war eine große, mit flachen Steinen ausgelegte Grube. Über zwei schweren, meterlangen Stämmen wurden die anderen einen Meter hoch kreuz und quer wie beim Bau einer Blockhütte aufgeschichtet; dabei verwendete man nach oben hin immer kürzere Scheite. Das Feuer war von einem Ring aus kleinen, pittoresk geformten Felsen umgeben. Etwa drei Meter von diesem Ring entfernt war die erste Bankreihe. Die Bänke bestanden aus gespaltenen, mit Steinen gesicherten Baumstämmen; sie waren konzentrisch in drei Sektionen zu je vier Reihen angeordnet.
    Etwa sechs Meter hinter der letzten Reihe begann der Wald. Mr. Blomback nannte es »das Ratsfeuer«, und die wöchentliche Versammlung aller Jungen des Camps hieß »die Große Ratsversammlung«.
    Am Rand des Rings stand ein Tipi, reicher verziert und größer als das am Eingang des Camps. Es hieß das Ratszelt und war oben mit roten, grünen, gelben, blauen und schwarzen Streifen und unten mit einer rotschwarzen Bordüre bemalt. Es gab auch einen Totempfahl, dessen Spitze ein geschnitzter Adlerkopf bildete. Darunter standen zwei große Flügel nach beiden Seiten ab. Die vorherrschenden Farben des Pfahls waren Schwarz, Weiß und Rot, die Farben von Camp Indian Hill. Der etwa fünf Meter hohe Totempfahl stand an einer Stelle, wo man ihn vom See aus sehen konnte. Im Westen, jenseits des Sees, wo die Mädchen ihre eigene Indianernacht veranstalteten, ging die Sonne unter - wenn die Große Ratsversammlung vorbei war, würde es ganz dunkel sein. Nur ganz leise hörte man das Klappern des abgeräumten Geschirrs aus dem Speisepavillon, und der dramatisch gefärbte Himmel über dem See - ein langer Lavafluss in Dunkelorange, Hellrosa und Blutrot - verkündete das Ende des Tages. Ein schimmerndes sommerliches Halbdunkel senkte sich langsam über Indian Hill, ein extravagantes Geschenk des Gottes des Horizonts, sofern es im indianischen Pantheon eine solche Gottheit gab.
    Die Jungen und ihre Betreuer - die an diesem Abend »Krieger« hießen - kamen in Indianerkleidung, die sie größtenteils selbst hergestellt hatten, zur Ratsversammlung. Alle trugen lederne, mit Perlenstickereien verzierte Stirnbänder, fransenbesetzte Tuniken, die einst gewöhnliche Oberhemden gewesen waren, und Leggins, die ganz normale Hosen waren, an deren Außennähte man Fransen genäht hatte. Einige hatten aus Leder gebastelte Mokassins, die meisten aber knöchelhohe, mit Perlen und Fransen verzierte Turnschuhe. Einige Jungen hatten sich im Wald gefundene Federn hinter das Stirnband gesteckt, andere kurz oberhalb des Ellbogen Perlenbänder um den Arm gebunden, und viele trugen Paddel, die wie der Totempfahl mit roten, schwarzen und weißen Symbolen bemalt waren. Ein paar hatten sich Bogen - allerdings keine Pfeile - aus der Gerätekammer ausgeliehen und über die Schulter gehängt, andere brachten Trommeln mit straff gespannten Kalbfellen und

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