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Roth, Philip

Titel: Roth, Philip Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nemesis
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du ihnen so nahestandest, würdest du es wissen wollen.«
    »Da hast du recht. Natürlich will ich es wissen.«
    »Es gibt Leute in der Stadt, die über Weequahic eine Quarantäne verhängen wollen. Es geht das Gerücht um, dass der Stadtrat das beschließen wird«, sagte sie.
    »Eine Quarantäne? Über ganz Weequahic?«
    »Ja. Sie wollen das Viertel absperren, damit niemand hinein oder hinaus kann. Entlang der Grenzen von Irvington und Hillside und außerdem an der Hawthorne und der Elizabeth Avenue. So steht's jedenfalls heute in der Zeitung. Da war sogar eine Karte abgedruckt.«
    »Aber dort wohnen zehntausende Menschen, Leute, die Jobs haben und zur Arbeit gehen müssen. Die können sie doch nicht einsperren!«
    »Die Lage ist schlimm, Eugene. Die Leute sind aufgebracht. Sie haben große Angst. Alle haben Angst um ihre Kinder. Gott sei Dank bist du nicht hier. Die Busfahrer der Linien 8 und 14 sagen, dass sie nur noch durch Weequahic fahren, wenn sie Schutzmasken kriegen. Und es gibt welche, die sagen, dass sie überhaupt nicht mehr durch Weequahic fahren werden. Die Briefträger wollen die Post nicht mehr ausliefern. Die Lastwagenfahrer weigern sich, die Läden und Lebensmittelgeschäfte und Tankstellen und so weiter zu beliefern. Wenn Leute aus anderen Vierteln durch Weequahic fahren, kurbeln sie alle Fenster rauf, ganz gleich, wie heiß es ist. Die Antisemiten sagen, dass sich die Polio ausbreitet, kommt daher, dass hier so viele Juden leben. Wegen all der Juden - darum geht die Polio von Weequahic aus, und darum muss man die Juden isolieren. Manche von denen hören sich so an, als würden sie denken, die beste Methode, die Polio loszuwerden, bestehe darin, Wequahic mit allen Juden, die dort leben, niederzubrennen. Es gibt viel Feindseligkeit, weil die Leute aus lauter Angst verrückte Sachen sagen. Aus Angst und Hass. Ich bin in dieser Stadt geboren, aber so etwas habe ich noch nie erlebt. Als würde alles zusammenbrechen.«
    »Ja, das klingt wirklich schlimm«, sagte er und warf die letzte Münze in den Schlitz.
    »Ach, das hätte ich fast vergessen: Alle Sportplätze sind geschlossen. Ab morgen. Nicht nur der von der Chancellor Avenue School, sondern alle in der Stadt.«
    »Tatsächlich? Aber der Bürgermeister hat doch gesagt, sie würden geöffnet bleiben.«
    »Es steht in der Abendzeitung. Alle Einrichtungen, wo Kinder zusammenkommen, sind geschlossen. Ich habe die Zeitung vor mir. Kinder unter sechzehn dürfen nicht mehr ins Kino. Das Freibad ist geschlossen. Die Leihbücherei und alle Filialen. Die Pfarrer schließen die Sonntagsschulen. Es steht alles in der Zeitung. Wenn die Epidemie nicht nachlässt, wird der Schulbeginn verschoben. Ich lese dir den Aufmacher vor: >Es besteht die Möglichkeit, dass die Schulen-<«
    »Steht da was Genaueres über die Sportplätze?«
    »Nein. Sie sind nur auf der Liste der Einrichtungen, die geschlossen werden.«
    Wäre er nur ein paar Tage länger in Newark geblieben, dann hätte er nicht zu kündigen brauchen. Statt dessen hätte man ihn beurlaubt, und er hätte tun können, was ihm beliebte, und gehen können, wohin er wollte. Wäre er geblieben, dann hätte er nicht O'Gara anrufen und sich anhören müssen, was dieser ihm zu sagen hatte. Wäre er geblieben, dann wäre er nicht gezwungen gewesen, seine Jungen im Stich zu lassen und ein Leben lang auf diesen unentschuldbaren Entschluss zurückzublicken.
    »Hier. Das ist die Überschrift«, sagte seine Großmutter. »>Zahl der Poliofälle auf Rekordhöhe. Bürgermeister schließt öffentliche Einrichtungen.< Soll ich dir den Artikel schicken? Soll ich ihn ausschneiden?«
    »Nein, nein. Grandma, ich muss jetzt Schluss machen - hier warten schon einige Betreuer, die auch telefonieren wollen, und außerdem hab ich kein Kleingeld mehr. Lebwohl, Grandma - bis bald.«
     
    Marcia erwartete ihn am Eingang zum Pavillon. Sowohl Bucky als auch sie trugen Pullover gegen die ungewöhnliche Kühle, und gemeinsam schlichen sie zum Landesteg, fanden das Kanu und paddelten durch den langsam aufsteigenden Nebel zur Insel. Die Stille wurde nur von dem Plätschern durchbrochen, mit dem Paddelblätter ins Wasser tauchten. Sie fuhren zur Rückseite der Insel und zogen das Boot an Land. Marcia hatte eine Decke mitgenommen. Er half ihr, sie auszuschütteln und auf der Lichtung auszubreiten.
    »Was ist passiert?«, fragte Marcia. »Was ist los?«
    »Ich habe mit meiner Großmutter gesprochen. Seit gestern gibt es in Newark siebenundneunzig

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