Rotkäppchen und der böse Wolf
nahm ihre Jacke. „Anscheinend hat sie mir immer noch nicht verziehen“, sagte sie mit einem schwachen Lächeln und streifte die Jacke über, wobei ihr Aki half.
„Ich hätte wohl nicht nach deinem Beruf fragen sollen“, antwortete Aki verlegen. „Aber ich konnte nicht damit rechnen, dass es deswegen zwischen euch böses Blut gab.“
Miza hob Akis Kinn an und tätschelte ihr auf sehr tantenhafte Weise über die Wange. „So ein liebes und hübsches Mädchen“, lachte sie leise. „Du brauchst dich deswegen nicht schuldig zu fühlen. Wie ich Midori kenne, hat sie meine Existenz bis jetzt sorgfältig geheim gehalten.“ Sie zog aus ihrer Handtasche eine Visitenkarte. Die Karte zierte eine silbergraue Silhouette eines Waldes, auf der die schwarze Schrift dennoch gut zu sehen war. „Miza Yamashida“, stand darauf und eine Handynummer. Mehr nicht. „Ruf mich an, ich würde dich gerne besser kennenlernen.“ Ihr Blick wanderte zum Wohnzimmer, in dem es auffällig still war. Aki nickte leicht und steckte die Karte ein. Ihre Tante lächelte ihr zu und verließ das Haus.
Aki ging zurück zu ihrer Mutter und setzte sich ihr gegenüber. Zwischen ihnen dampfte noch die Teekanne, aber Aki hatte keine Geduld für Tee. „Warum hast du nie von ihr gesprochen?!“, platzte es aus ihr heraus.
Midori mied ihren Blick und drehte immer wieder ihre Tasse in den Händen. Aki fielen zum ersten Mal bewusst die grauen Strähnen ihrer Mutter auf und die Falten, die sich in ihr Gesicht gegraben hatten. Sie schien durch diesen kurzen Besuch um Jahre gealtert zu sein.
„Ich habe sehr lange versucht, sie zu vergessen.“
Das Drehen der Tasse machte Aki wahnsinnig. Sie nahm sie behutsam aus den Händen ihrer Mutter und fasste beruhigend nach deren Hand. „Sie ist deine Schwester. Ich dachte immer, wir hätten gar keine Familie mehr. Und plötzlich taucht diese Frau auf, und du sagst mir, dass sie meine Tante sei. Was ist da passiert, Oka-san?“, fragte sie sanft.
Ihre Mutter entzog ihr die Hand und sah auf. Zwischen ihren dünnen gezupften Augenbrauen war eine steile Falte zu sehen. „Sie hat die Familie entehrt“, sagte sie heftig. „Ich habe mein Gesicht verloren, als ich hörte, was sie tut, und in welchen Kreisen sie sich herumtreibt!“
Überrascht über diesen heftigen Gefühlsausbruch wich Aki zurück. Ihre Mutter verlor niemals derart die Fassung, zumindest hatte sie das bis jetzt nicht getan. „Was hat Tante Miza denn getan, dass du so wütend bist?“, bohrte sie weiter.
Midori presste die Lippen so fest zusammen, dass sie wirklich kaum noch zu sehen waren.
„Ist sie eine Prostituierte?“, wagte Aki als nächste Frage. Das Auftreten ihrer Tante hatte weder billig noch anzüglich gewirkt, aber Aki konnte sich kaum etwas anderes vorstellen, was ihre Mutter derart in Rage bringen würde. Auf ihre Moralvorstellungen hielt sie viel, und Miza musste in irgendeiner Art dagegen verstoßen haben. Wahrscheinlich hatte sich Akis Mutter auch nur deshalb überreden lassen, wieder mit ihrer Schwester zu sprechen, weil die Ältere von beiden nicht mehr im fernen Japan, sondern jetzt direkt in ihrer Nähe war.
Midoris dunkle Augen wurden zu schmalen Schlitzen. „Schlimmer“, stieß sie aus und griff wieder nach ihrer Tasse. „Viel schlimmer.“ Sie schenkte sich Tee ein und machte eine abwehrende Handbewegung. „Aber du musst von solchen Dingen nichts wissen. Wir werden Mizas Beruf nie wieder erwähnen.“ Und damit war das letzte Wort gesprochen.
In ihrer eigenen Wohnung ließ Aki dieses seltsame Geschehnis nicht los. Sie ließ sich ein heißes Bad ein und entkleidete sich sorgsam im Schlafzimmer, während sich die Wanne mit warmem Wasser und angenehm duftendem Schaum füllte. Als sie sich gerade vor ihrem großen Spiegel nach neuer Unterwäsche bückte, blieb ihr Blick an ihrem nackten Körper hängen, und sie richtete sich auf. Ihr kurz geschnittenes Haar verlieh ihrem Gesicht – das sonst eher weich und mädchenhaft wirkte – einen frechen Ausdruck. Es betonte auch den langen, schlanken Hals. Aki hatte sich die Haare erst neulich so kurz schneiden lassen und war bis heute sehr zufrieden mit dem Ergebnis. Als kleines Mädchen hatte sie immer versucht, ihre japanische Abstammung herunterzuspielen. Sie wollte nicht anders sein, als die anderen Kinder im Kindergarten und später in der Schule. Gegen die auffallend großen und schrägstehenden Augen und die hohen Wangenknochen hatte sie natürlich nichts tun
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